Gruppe 13


Räuberpistolen für den Hausgebrauch


Claire

eine emotionale Achterbahnfahrt von Ronny Schnaps

Als Marvin sie zum ersten Mal sah, wurde er gerade von einem Lastwagen überfahren. In einen schwarzen Kunstledermantel gehüllt stampfte sie über den Zebrastreifen als wäre er mit den Köpfen ihrer Feinde belegt. Ihre zierlichen, behaarten Krallen hielten ein eingeschüchtertes Mobiltelefon und eine ewig brennende Zigarette. Er erinnerte sich genau an den kreissägenartigen Klang ihrer Stimme: „Diese GOTTVERFICKTE DRECKSHURE! Wenn diese blöde Fo…“ In diesem Moment wurde Marvins wurstiger, kleiner Corgi-Körper von einem 12-Tonner in rot-braunen Matsch transformiert.
Für einen kurzen Moment war nichts. Er schaute auf. Aus dem Augenwinkel nahm er ein weißes Licht wahr, das sich warm über seinen lustigen Rücken legte. Einladende Fanfaren erschallten aus der Ferne und der Geruch von frischem Speck stieg ihm in die Nase. Marvin interessierte das alles nicht. Seine Sinne kannten nur noch Claire. Ihr rotbraunes Fell glänzte in der verschämten Abendsonne und ihre kleinen, knopfartigen Augen waren voller magischen Zorns. Marvin war verliebt.
„Irgendso ein behinderter Wichser hat sich gerade vor meinen Augen überfahren lassen. Was für eine behinderte Scheiße!“, sagte sie.

Aufgeregt folgte der leicht transparente und fröhlich, blau schimmernde Hütehund dem rot lockenden Schweif des cholerischen Eichhorns. In einer mittelmäßigen Gegend der Stadt, vor einem mittelmäßigen Haus, blieb sie stehen und suchte kurz, in einer Wolke aus Flüchen und Zigarettenqualm, nach den „verhurten Drecksschlüsseln“ in ihrer Handtasche. Kurz darauf knallte sie die erschöpfte Wohnungstür hinter sich zu.

Marvin begab sich mit pochendem Herz an die Tür um anzuklopfen. Doch als seine Pfote auf das rot bemalte Sperrholz stieß, versank sie darin harmlos, wie eine Schüssel Kätzchen in Treibsand. Verdutzt starrte Marvin die Tür an, dachte an ein entsetztes Kaninchen, freute sich furchtbar und sprang gedankenlos nach vorne.

Von nun an saß er Claire jeden Tag auf der fleckigen Eckbank ihrer kleinen Küche gegenüber. Er blickte sie verliebt über den mit leeren Gauloises-Schachteln und alten Nussschalen gefüllten Klapptisch an. Er beobachtete, wie sie Nüsse kochte um sie später in der ganzen Stadt zu verstecken. Wenn sie sich umzog schaute er verschämt zu Boden und ignorierte das starke Kribbeln in seinen Ohrenspitzen. Wenn er doch einen Blick wagte, lag er oft die ganze Nacht wach und dachte an Jesus.
Freunde schienen Claire nie zu besuchen und sie selbst verließ das Haus nur um auf die Arbeit zu gehen und oder um im Stadtpark Vorbereitungen für den Winter zu treffen.
Marvin erfuhr, dass Claire wegen Nötigung bereits 6 Monate im Gefängnis verbracht hatte. Eine Anklage gegen sie, wegen des mehrfachen Mordes an einer Gruppe junger Finnen wurde fallen gelassen. Die einzige Zeugin hatte sich kurz vor der Verhandlung an einer Handvoll ungeschälter Walnüsse verschluckt.

Mit der Zeit jedoch wurde Marvins Sehnsucht immer größer. Nicht mit Claire sprechen zu können, geschweige denn ihr seine Liebe zu gestehen wurde immer unerträglicher. All seine Träume von einer intimen Zweisamkeit mit dem aufbrausenden Nagetier würden für immer unerfüllt zu bleiben.
Manchmal war Marvin so unendlich traurig, dass er sterben wollte. Dann erinnerte er sich, und er wurde ganz unglücklich. Der Zug nach Corgiland* war bereits abgefahren.

Wie immer wenn Marvin der Verzweiflung nahe war, dachte er an seinen Vater. Chump McCallum war ein hochdekorierte Held der Falklandkriege, der seinen neugeborenen Sohn nie kennenlernen sollte. Ein Gruppe argentinischer Soldaten lockte ihn kurz vor der Rückkehr nach England mit einem Stück Wurst in einen Hinterhalt und ließ ihn von einem übergelaufenem Tierarzt einschläfern. Doch Marvins Mutter hielt die Erinnerung an den Hund der sein Vater war am Leben. „Am Ende des Hügels liegt immer noch ein Stück Wurst“, hätte sein Vater immer gesagt.
Marvin wusste, dass er nicht aufgeben durfte. Er würde einen Weg in Claires Herz finden. Dann passierte etwas Unerwartetes.

Claire fluchte wie jeden Nachmittag durch die Fußgängerzone als sie unachtsam in ein kleines Kind lief. „Pass doch auf, du kleiner Spast!“, keifte Claire und trat dem perplexen Mädchen mit voller Wucht in den Bauch. Das Kind brach in Tränen aus. Claire nahm Anlauf um nachzutreten und übersah dabei das Taxi, das sie totfuhr.
Marvins Heulen war von solch unfassbaren Schmerz erfüllt, dass es die Grenzen zur Welt der Lebenden durchbrach. Es ließ die Scheiben der Stadt zerbersten, wie Claires Tod sein Herz.

Dann stand sie vor ihm – blau schimmernd und leicht transparent. Ihre Blicke trafen sich. Marvin war überfordert von all den großen Gefühlen und kotzte ein bisschen. Zu seiner Erleichterung war Claire bereits damit beschäftigt, ihren Leichnam nach Zigaretten zu fleddern und hatte nichts von seinem kleinen Malheur mitbekommen. „Wuff wuff wuff wuff wuff wuff wuff wuff wuff wuff wuff!“ brach es unvermittelt aus ihm heraus. Claire drehte sich langsam zu ihm und starrte ihn für einen langen Moment an. Dann prustete sie durch ihre kleine spitze Nase, stieß eine Wolke weißen Rauchs durch ihre gelblichen Vorderzähne, drehte sich um und marschierte geradewegs durch das Portal aus Feuer und Schwefel, welches sich hinter ihr aufgetan hatte. Sie ging hindurch als sei es der Weg nach Hause.

*Corgiland ist der durch die Queen garantierte Ruheort für alle Corgiseelen. Es handelt sich um eine unbeliebte Parallelwelt unendlicher grüner Hügel, nur bewohnt von Corgis, Schafen und älteren Damen, mit großen Flechtkörben voller Wurstwaren.