Gruppe 13


Räuberpistolen für den Hausgebrauch


Das vorlaute Zebra

von Ficky Zwölf

Gralf erwachte. Noch bevor ihn das trübe Sonnenlicht, das durch die gelben Lumpen vor den Fenstern quoll, blenden konnte, wurde ihm bereits wieder schwarz vor Augen. Die Maßlosigkeit der vorangegangenen Nacht traf ihn wie ein schlecht geworfener Jagdhund auf die vor Fett triefende Stirn. Es war gegen Gralfs Natur, sich in diesem Zustand zu bewegen. Dennoch biss er seine ihm verbliebenen Zähne zusammen und erhob sich mit der fragwürdigen Lebendigkeit animierter Überreste aus seinem Bett. Er konnte sich keine weitere Verspätung erlauben. Diesmal musste er pünktlich sein.

„Arschloch!“, rief er mit krächzender Stimme nach seinem Kater, als er sich die Reste seines Morgenmantels um die Hüften knotete. Das Klappern längst vergessener Bierdosen kündigte das gestreifte Semi-Raubtier an.
„Ihr habt nach mir gerufen, Meister?“
„Ruf den Fährmann an und sage ihm, dass ich die Überquerung des Flußes zur vollen Mittagsstunde ersuche. Er möge darauf achten, dass Dirnen und Bettler dem Boote fernbleiben.“
„Wie ihr wünscht Meister“, antwortete die Katze, oder auch nicht. Er sah sie nie wieder.

Gralf zwängte seine ungepflegten Füße in die kunstledernen Cowboystiefel, in denen noch das Regenwasser des Vortags stand. Er setzte sich einen gewaltigen Sonnenhut auf sein spärlich behaartes Haupt und frühstückte eine gigantische Zigarre aus seinem Nachttisch. Wie jeden Morgen, bevor er das Haus verließ, sang er ein paar traurige Weisen, begleitet von seiner Heimorgel, und dachte dabei an Jesus. Dann war es Zeit zu gehen.

Durch die sinkende Nachfrage nach Katzenmilch, wegen welcher er immer seltener in der Molkerei gebraucht wurde, stand Gralf mehr Freizeit zu Verfügung als ihm lieb war. Viel davon verbrachte er im Zoo. Der Geruch des Raubtiergehege erinnerte ihn an die besseren Tage seiner Kindheit, und der leise Gesang der Affen spendete ihm Trost an Tagen, an denen ihn das Glück an den Automaten im Stich ließ und Nutten folglich zu teuer waren.
Diese Zoobesuche jedoch waren, zu Gralfs großem Bedauern, ebenfalls der Beginn einer tiefsitzenden Feindschaft. Aus diesem Grund war Eile geboten, Zebras waren dank ihrer Zweifarbigkeit bei vollem Sonnenlicht praktisch unsichtbar. Gralf erwürgte einen empörten Fahrradfahrer vor seiner Haustür und radelte los.

Am Zoo angekommen begann Gralf sogleich damit, sich langsam, aber zielstrebig seinen Weg gen Zebragehege zu bahnen. Er pflügte durch die Zoobesucher wie ein alter Eisbrecher durch überraschte Pinguine. Menschen sprangen erschrocken zur Seite. Eine zierliche Frau aus Paris fiel um. Kinder weinten.
Gralf stapfte unbeirrt weiter.

Er spürte die brennenden Augen des Zebras schon von Weitem, als ob sie sich von einem kranken Hunger besessen durch seine ledrigen Haut hindurchfressen wollten. Es warf ihm einen Blick zu, der so voller Hass und Verachtung war, dass sich Menschen, die ahnungslos zwischen Gralf und das Zebra traten, spontan und unter Tränen erbrachen. Gralf ließ einen grellen Schrei aus seiner Kehle fahren und sprintete wie vom Storch geschlagen gen Zebragehege.
Er durchbrach die Chinaschilfhecke mit einem ohrenbetäubenden Knall und stieß sich mit seinen adrig-pulsierenden Beinen, kurz vor dem mit Nichts gefüllten Wassergraben ab. Er schoss durch die Luft wie ein Hai durch Cellophan.

Sein taktisch mäßiges Vorgehen ermöglichte es seinem gestreiften Gegner jedoch, sich ausreichend auf die bevorstehende, und fraglos körperliche, Auseinandersetzung vorzubereiten. Gralfs Nase wurde von den wild fliegenden Fäusten des Zebras empfangen. Gralf aber war von solch ein Berserkerwut überkommen (sein Großvater reiste einst geschäftlich für mehrere Tage nach Oslo), dass er den Verlust seiner ursprünglichen Gesichtsform kaum mehr wahrnahm als die johlende Mixtur von angetrunkenem Zoogetier, welche das Geschehen vom Rande des Geheges anfeuerte und ab und zu mit dem Werfen leerer Bierflaschen kommentierte. Er schüttelte sich kurz wie ein alter Mann in einer Wäschetrommel und setzte sofort seinen tödlichen Würgegriff an.

Das Zebra aber war auf der Hut und versank seine blitzenden, messerscharfen Zähne tief im zähen Fleisch von Gralfs rechtem Oberarm, bevor sich dieser um seine Kehle legen konnte. Erst fühlte es sich für Gralf an, als ob ihm eine Gruppe Kinder über die Schulter pinkelte, doch darauf folgte ein so wahnsinniger Schmerz, wie er ihn nicht mehr gespürt hatte seit seiner eigenen, versehentlichen Beschneidung bei einem Küchenunfall. Zu seinem stetig wachsendem Unglück fand sich sein linker Arm gleichzeitig in einem eisernen Haltegriff wieder. Er schwang seinen Kopf verzweifelt zur Seite und wurde mit einem dumpfen Knacken belohnt. Das Zebra war benommen, löste seinen Biss aber nicht. Dafür gelang es Gralf, seinen unversehrtem Arm aus dem Haltegriff des blutdürstigen Savannenpferdes zu reißen. Er rammte dem Zebra mit aller Wucht den ausgestreckten Zeigefinger ins rechte Auge und stoppte erst, nachdem er ein unangenehmes Ploppen verspürte hatte. Das Zebra ließ von ihm ab und stieß einen Schmerzensschrei aus, der die Papageien im Käfig nebenan gefrieren ließ. Mit beiden Händen versuchte es seine leere rechte Augenhöhle zu bedecken, aus dem immer mehr Blut, wie Wasser aus einem defekten Abfluss, quoll.

Gralf sprang auf das halbblinde Tier und legte die blutigen Reste seines Arms um dessen schwarz-weiße Kehle. Das Zebra versuchte verzweifelt Gralfs Arm zu packen, doch es war zu spät. Gralf spürte, wie die Kraft aus dem Tier schwand, als er seine tödliche Umarmung enger und enger zog. Nachdem er sich sicher wog, dass alles Leben aus dem regungslosen Tier entflohen war, raffte er sich auf, küsste eine vorbeistreifende Hauskatze mittig auf die Stirn und ritt nach Hause.

„Das vorlaute Zebra“ ist Geschichte 1 aus dem umfangreichen Werk „Geschichten über Gralf“.