Gruppe 13


Räuberpistolen für den Hausgebrauch


Memme Nimmersatt

von Erika Karl

Die Wohnungstür öffnete sich lautlos und Zora schob einen lauschenden Fuß hinein. Es war niemand zuhause. Die Memme ausgeflogen. Zora schlüpfte herein und stöckelte langsam den langen Flur entlang. Das Meiste, was sie aus den Augenwinkeln durch die offenen Zimmertüren sah, schien seit ihrem Auszug vor sechs Monaten unverändert. Die Memme hatte sich, bis ins narzisstische Mark verletzt über das Verlassenwerden, sehr aufgeplustert und Anspruch erhoben auf den Großteil des ehemals gemeinsamen Mobiliars. Alles war aufgeräumt, von ein paar geschmackvoll platzierten Unordentlichkeiten abgesehen. Ein freundliches Abendlicht schien milde durch die Dachfenster auf Zora herab, die unschlüssig umherschlenderte, lustlos alle Nachrichten vom blinkenden Anrufbeantworter löschte, ein Ladekabel in den Übertopf der Zwergdattelpalme und ein paar Schokoriegel in ihre Handtasche gleiten ließ. Es durfte auf keinen Fall so aussehen, als sei sie wütend, obwohl sie es natürlich war. Aber was wollte sie eigentlich hier?
Ohne es selbst zu bemerken, hatte die nun so gekränkte und gefühlsduselige Memme sie schon lang zuvor mit aller Macht von sich gestoßen, nur um ihre Gift spritzenden und Licht saugenden Tentakel, unzureichend in Traurigkeit und Zuneigung gehüllt, immer und immer wieder nach ihr auszustrecken.

Die Memme trug tagsüber ihren schillernden Perfektionismus zur Schau, sprühte leeren Charme und harmlosen Witz umher und überhäufte ihre wehrlose Umgebung mit Nähe und Motivation. Beim abendlichen Betreten der Heimstatt wölbten sich die Stirnhöcker auf dem tagsüber so ebenmäßigem Gesicht hervor und verliehen ihm etwas höhlenmenschartig Grimmiges. Ein Feuer zu entfachen indes war die Memme nicht in der Lage. Sie war ja schließlich hungrig.
Zuerst fraß sie sich durch die Verliebtheit, aber satt wurde sie davon nicht.
Danach fraß sie sich durch die gemeinsamen Zukunftsvisionen, aber satt war sie noch lange nicht.
Dann fraß sie sich durch den vereinten Alltag, aber satt war sie immer noch nicht.
Schließlich fraß sie sich durch das Gestern, das Morgen, das Hätte-Wäre-Könnte, und schließlich hatte sie Bauchschmerzen. Da die hungrige Memme nicht imstande war sich zu sättigen, misslang die Verpuppung, und so schneiderte sie ihr Mottenkostüm immer kompetenter, dynamischer, reaktiver – und wurde der völlig überfluteten Zora zu bunt.

Zora atmete in einem Anflug von Erleichterung auf, öffnete die Balkontür und trat hinaus in die sommerwarme, samtig dunkle Abendluft. Sie nahm auf einem Schemel Platz, lehnte sich zurück, schloss die Augen.
In der Wohnung waren nun heitere Stimmen zu hören, die Memme war zurück. Sie hatte ein blondes, angetrunkenes Gekicher undefinierten Geschlechts im Schlepp, welches blauäugig zu ihr aufblinzelte. Als nächstes war zu vernehmen, wie die beiden ausgiebig auf dem schwarzmetallenen, sinnlos verschnörkelten IKEA-Bettgestell sowohl an den eigenen als auch an den gegenseitigen Bedürfnissen vorbeiperformten. Sie spürte die Einsamkeit des Aktes, und eine tiefe Langeweile ließ sie laut gähnen. Sie schlenderte zurück in das Wohnzimmer, nebenan schreckte man aus der postgenitalen Pseudoentspannung. Die Memme begann sich bei Zoras Anblick zu empören, das Gekicher sperrte den verschüchterten Schlund auf. Eine Weile sagte niemand etwas. Zora schnippte mit den Fingern, und das Gekicher zerplatzte laut- und rückstandslos. Die Memme und Zora starrten sich wortlos an, die Leere zwischen ihnen wurde erst blass, dann kühl, dann klirrend. Die Memme, substanzlos, wie sie war, gefror endlich zu dem Block, der sie schon immer gewesen war. Der Wohnungsschlüssel glitt aus Zoras Hand, glühend vor Zorn und Erschöpfung, und entflammte das honigfarbene Parkett. Der Frieden trug Zora sacht, aber bestimmt, hinaus.