Das Krähen der Kaninchen
von Carl Bombe
Ross-Vita konnte nicht atmen. Das Gewicht ihrer Nachbarn wog zu schwer auf ihr. Aber so war es nun mal in einem Massengrab. Sie keuchte und japste gemuffelt vor sich hin und dasselbe Schicksal, welches die Menschen über und unter ihr und um sie herum ereilte, rückte bedächtig, aber unaufhaltsam näher. Ihre versuchten Atemzüge wurden immer kürzer und flacher und als das Leben langsam aus ihr herausgepresst wurde, schweiften ihren Gedanken zurück zu der Zeit vor dem Krieg.
Es war ein Frühlingsmorgen aus dem Bilderbuch. Die Luft war noch kalt
und frisch von der Nacht, doch der Himmel war glasklar und Ross-Vita
spürte die Wärme der ersten Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sie stand am
Fenster und hing wie immer Möhrchen auf, um die Kaninchen anzulocken,
die zu dieser Jahreszeit wie üblich das Land vom Süden her überquerten,
um in den eisigen Klippen des Nordens ihren Sommerunterschlupf
einzurichten. Ross-Vita hörte das vertraute Rumpeln der Treppe, als
ihre Kinder Mike, Dike und Spike die Stufen herunterpurzelten.
„Sind die ‘ninchen schon da?“, krakeelten die Kinder im Chor.
„Nein, noch nicht. Geht erst mal in den Schuppen und holt euch etwas zu
essen.“
Sie verpasste Dike einen gezielten Hieb aufs Ohr, weil sie ihn
etwas weniger mochte als die anderen beiden. Nachdem die Kinder ihre
Holzscheite verspeist hatten, wurden sie von Ross-Vita endlich in den
Garten entlassen. Dort warteten bereits die Nachbarn und Nachbarskinder
mit ihren Transparenten und Trompeten, um den Kaninchen einen
gebührenden Empfang zu bereiten. Die Kinder erbrachen sich vor Freude,
als ihre Mutter ebenfalls ein Transparent aus dem Ärmel zauberte.
„Hallo Kaninchen. Schön, dass ihr da seid“, stand darauf geschrieben,
und die Kinder schlugen sich sogleich darum. Vor allem Dike musste
ordentlich einstecken, weil er ja bereits angeschlagen war. Ross-Vita
schmunzelte. Dann rief plötzlich jemand „Da! Am Horizont. Sie kommen!“ Und tatsächlich: am Firmament erschienen mehr und mehr winzige braune
Punkte. Bald waren es so viele braune Punkte, dass sie zu einem
einzigen riesigen Punkt verschmolzen. Als sich der gigantische Schwarm
vor die Sonne schob, übernahm die morgendliche Kälte wieder das
Kommando und Ross-Vita zitterte. Schon bald vernahmen sie das Krähen
der Kaninchen.
„Irgendwie klingen die komisch“, sprachen die Kinder im
Chor und Ross-Vita nickte schweigend. In der Tat klangen die fliegenden
Nagetiere anders als gewöhnlich. Sie rieb sich die Arme, um sich
aufzuwärmen. Irgendetwas stimmte nicht und sie verspürte plötzlich ein
tiefes Unbehagen.
„Mike, Dike und Spike, geht ins Haus und setzt das
Benzin auf! Ich möchte gleich mit euch trinken“, sagte sie.
„Aber Mama, wir wollen doch die Kaninchen sehen!“ protestierten die Kinder im
Chor.
„Guck mal, sie sind schon fast hier!“
„Keine Widerworte! Ihr geht
jetzt sofort ins Ha..“
Ein Schrei schnitt ihre Worte ab. Ross-Vita
drehte sich um und starrte mit Entsetzen in das sich ausbreitende
Chaos. Statt wie üblich sanft zu den angebotenen Möhren zu segeln,
stürzten sich die Kaninchen wie kleine, flauschige Bomben in die
Menschenmenge. Nach ihrem Einschlag verbissen sie sich in Gesichter,
Hälse und alles an freiliegender Haut, was für sie erreichbar war. Sie
fraßen sich durch Augen, Ohren und Münder in die Köpfe der Menschen und
machten erst Halt, wenn diese leblos zu Boden fielen. Ein brauner Punkt
sauste mit einem aggressiven „Jiiiiieeee!“ direkt auf Ross-Vita zu. Sie
machte einen perfekt getimten Ausfallschritt zur Seite und zerteilte
den im Blutwahn befindlichen Nager mit einem Handkantenschlag in zwei
Teile. Nun zahlte sich aus, dass sie bereits bei den ersten
Schwangerschaftsanzeichen einen Krav Maga-Kurs belegt hatte. Die
Kaninchenhälften plumpsten zu Boden. Eine bewegte sich noch. Ross-Vita
wollte los zum Haus, um sicher zu gehen, dass zwei ihrer Kinder in
Sicherheit waren, als sie ein heiseres, piepsiges Lachen vom Boden
vernahm. Ross-Vita packte die obere Hälfte des Kaninchens mit Daumen
und Zeigefingern am Kragen:
„Was wollt ihr?“ schrie sie dem halben
Häschen ins Gesicht.
„Hi hi, ihr seid dem Untergang geweiht, Mensch“,
sprach das Tier, während es winzige Bluttröpfchen spuckte. Ross-Vita
schüttelte es wild.
„Ich habe gefragt, was ihr wollt. Warum tut ihr
das?“ Doch das Kaninchen war bereits entschlafen. Stürzenden Nagern
ausweichend und selbige richtend, bahnte sie sich den Weg zu ihrem
Haus. Die Kinder hatten es ebenfalls geschafft. Alle außer Dike.
Ross-Vita atmete erleichtert durch.
Ross-Vita atmete nicht mehr. Oder doch? Aus einem ihr unbekannten Grund hatten sich die Leichen über ihr verschoben und während sie kurz befürchtete, dass ihr Brustkorb unter all dem Gewicht jeden Moment zerdrückt werden würde, verlagerte sich der Druck so, dass sie plötzlich wieder ein kleines Bisschen der warmen, fauligen und von Sauerstoff fast gänzlich befreiten Luft in ihre schmerzenden Lungenflügel saugen konnte. Waren das Stimmen?
„Wir brauchen mehr Katzen!“, brüllte der General in die letzten
Überreste der Führungsriege der letzten Überreste der Menschheit. „Mehr
Katzen und mehr Kanonen!“ brüllte er weiter.
„Kanonen? Woher sollen
wir Kanonen nehmen? Das erste was diese flauschigen Bastarde zerstört
haben, war die Kanonenmanufaktur. Und selbst wenn das Gebäude noch
stünde - es gibt niemanden mehr, der Kanonenbälle zu blasen weiß,
geschweige denn wie man die Sprengblumen erntet, ohne dabei den
Kaninchen die Arbeit abzunehmen. Und die Katzen. Die Katzen werden
nicht kommen. Kanzler X-Otter hat uns alle dem Untergang geweiht, als
er auf ihre Forderungen nicht eingegangen ist“, entgegnete ihm Sharif
von der Hohenkannte. „Sie wollten zu viel!“ brüllte der General, aber
weder Sharif noch sonst irgendwer hielt es für wert, darauf einzugehen.
Ross-Vita blickte in die schweigende Runde. Der brüllende General
geiferte nur noch, aber schloss sich grundsätzlich dem Schweigen an.
Sharif von der Hohenkannte lehnte sich müde gegen sein abgenutztes
Reitschaf. Die Zwillinge von Darr starrten mit ihren großen,
smaragdfarbenen Augen ins Nichts. Der Greis vom Berge war sichtbar
gealtert und die Hundeleute von Abellonien stellten sich mit ihren
Gesichtern im eigenen Schritt schlafend. Wie sollte dieser mutlose
Haufen die letzten Überreste der Menschheit vor den Kaninchen retten.
Da kam Ross-Vita plötzlich eine Idee. Sie räusperte sich vorsichtig und
dann nochmal etwas lauter, als niemand reagierte. Sie hustete sehr laut
und auffällig und spuckte vor sich auf den Boden, schob sich den Finger
langsam in den Hals und würgte.
„Ja, Ross-Vita?“ fragte Sharif
genervt.
„Sag doch bitte einfach was du uns sagen möchtest.“
Ross-Vita
kotzte ein bisschen und danach sprudelten die Worte und noch etwas
Mittagessen aus ihr heraus:
„Also, ich hatte gerade diesen Gedanken -
und zwar: was, wenn wir unsere Situation einfach mal aus einer anderen
Perspektive betrachten würden?“
Fortsetzung folgt…
Lesen Sie jetzt bereits den Teaser zum zweiten Teil:
Etwas nagte an Ross-Vita und sie stellte erleichtert fest, dass es kein Kaninchen sondern nur ihre Gedanken und eine fiese Ratte Namens Jens waren.