Niemand lacht
Kurt Gun
Der Verwesungsgeruch schlug Inspektor Franko „Frank“ Wellenbrecher
bereits im Hausflur wie der ranzige Atem tausender müder Katzen
entgegen. Er ging auf die Wohnungstür zu und erbrach sich bei jedem
Schritt ein wenig in den Mund. Er schluckte tapfer und ging weiter.
Würg, Schluck, Würg, Schluck. Wie eine übereifrige Vogelmutti bahnte er
sich mühsam seinen Weg. Als er das Ende des Flures endlich erreicht
hatte, stützte er sich erschöpft am Türrahmen ab. Er atmete tief durch
und erbrach sich dann doch noch ein bisschen über sein linkes Hosenbein
und die Schuhe. „Alles umsonst“, krächzte er leise zu sich und dachte
dabei nicht zum ersten Mal, wie gut dieser Satz sein Leben
zusammenfasste. Er griff nach seiner Waffe und wurde wieder enttäuscht,
als seine zitternde Hand statt kaltem Stahl nur eine warme Banane
umschloss. Sie war bereits ziemlich braun und weich. „Besser als
nichts“, dachte der Inspektor. Er trug sie in seinem Holster, um es mit
dem vertrauten Gewicht seiner Dienstwaffe zu füllen, welche gut
verschlossen auf der Polizeiwache wartete. Er arbeitete an diesem Fall
auf eigene Faust.
Seit seine Frau Enne bei einem tragischen Gartenunfall durch chilenische
Sprengblumen ums Leben gekommen war, blieb ihm nicht mehr viel außer
seiner Liebe zu den Eichhörnchen. Enne hätte ihn ohne sein stabiles
Wertegerüst niemals respektiert und er würde den Teufel tun seine
kleinen rothaarigen Freunde im Stich zu lassen. Selbst wenn es das Ende
seiner Karriere bedeuten sollte!
Er war der blutigen Spur der Eichhörnchenmorde in und um Bonn herum
gefolgt, welche ihn zu dieser etwas zu kleinen Wohnung in Beuel geführt
hatte. Er ließ seine linke Hand in seine Manteltasche gleiten und
streichelte sanft über die mit tiefen Bissspuren versehene Spielkarte.
Enne hatte vor Wut in die Pik-Sieben gebissen, als Franko damit zum
dritten Mal hintereinander eine Partie Mau-Mau gegen sie gewonnen hatte.
„Enne - so wie Anna nur mit E und rückwärts“, stellte sie sich
erwartungsvoll vor und wirkte danach immer sehr einsam. Es lachte nie
jemand. Franko hatte sich sofort verliebt. Er hob die Karte als
Erinnerung an ein anderes, besseres Leben auf, auch wenn er nie ganz das
Gefühl los wurde, dass Ennes Zähne damals eigentlich seiner Hand galten.
Ein erneuter Schwall warmer Fäulnis riss ihn aus seiner Träumerei wie
ein Wolf im Kinderwagen. Dass sich bisher niemand über den bestialischen
Gestank beschwert hatte ließ Franko vermuten, dass es sich bei den
Bewohnern hauptsächlich um Studenten-WGs handelte. Bevor er herausfinden
konnte, ob sein Magen bereits vollständig geleert war, trat er beherzt
die Tür zur Wohnung ein. „A-HA!“, bellte er und wedelte unkontrolliert
mit der Tropenfrucht. Nichts regte sich. Er ließ seinen Blick durch das
dunkle Zimmer gleiten und erschauderte.
Hunderte, nein tausende leere Augenhöhlen starrten ihn vorwurfsvoll aus
halb so vielen Schädeln an. Als seien sie Gäste einer gewaltigen
Überraschungsparty gewesen, zu der das Geburtstagskind sehr, sehr viel zu
spät erschienen war. Franko konnte nicht atmen. Eine unsichtbare Hand
hatte sich um seinen Hals gelegt und schnürte ihm die Kehle zu. Er hielt
die Banane so fest in seiner Hand, dass sie an einer Seite aufriss und
schaumigen Saft blutete. Er durchbrach den Bann mit geschickter
Selbstsuggestion und schob den Horror der Eichhorngebeine zu den
Erinnerungen aus dem Internat. Er sah sich weiter um. Die Wohnung war
viel zu klein. 34m², schätze Franko. Wer konnte sich hier wohlfühlen
außer einem hasserfüllten Mörder? Auf dem Fenstersims stand ein leerer
Blumentopf. An der rechten Wand ein Bett und eine Kochnische. Links die
Tür zum Badezimmer und daneben in der Ecke stand ein großer orangener
Sack auf dem ein ausgetrocknetes, graues Gebüsch lag. Franko wollte sich
den mit Rußflecken beschmutzten Blumentopf genauer ansehen und nahm
dabei gerade noch wahr, wie sich der Sack in seinem Augenwinkel aufrichtete.
Ruckartig drehte er sich um, richtete die halb zerdrückte Banane auf
sein Ziel und schrie mit fester Stimme: „Halt! Polizei! Keine Bewegung!“
Der Sack stoppte und verharrte regungslos. Franko betrachtete ihn mit
inspektorischem Auge. Der Sack war kein gewöhnlicher Sack. Er war
vielmehr ein krude zusammengenähtes Kleid aus kleinen Fellfetzen, und das
graue Gebüsch war kein graues Gebüsch, sondern ein Schopf wilder Locken,
durch welche ihn zwei blutunterlaufene Augen intensiv anstarrten. Ein
darunter sitzender Mund war zu einem hämischen Grinsen verzerrt und
zischte: „Aber Frank, du willst doch deine geliebte Frau nicht mit einer
geladenen Banane verletzen.“
Franko verschluckte seinen Atem. „Nein…“, flüsterte er ungläubig. Er
hielt die Banane weiter auf Enne gerichtet.
„Ich dachte du wärst…“
„Größer?“, beendete sie seine Frage auf ihre vertraut nervige Art.
Niemand lachte.
„…tot. Ich verstehe nicht. Die Eichhörnchen. All die armen
Eichhörnchen. Enne, warum?“, stammelte er.
„Die Eichhörnchen! Die verdammten Eichhörnchen sind genau der Punkt,
Frank. Eichhörnchen hier, Eichhörnchen da. Frank und seine Eichhörnchen!
EichhörncheneichhörnchenEICHHÖRNCHEN! Er rettet sie, er pflegt sie, er
führt sie zum Essen aus, aber für seine pseudo-depressive Frau Enne hat
er keine Zeit.“
„Enne, das kannst du doch so nicht sagen! Du hast immer gewusst, was mir
die Eichhörnchen bedeuten. Wie tief ich in ihrer Schuld stehe. Sie haben
mich doch damals als kleiner Junge vor dem Ertrinken gerettet!“
„Oh Frank, oh Frank, oh Frank. Wann wachst du endlich mal auf? Deine
Mutter geht mit dir an einem abgelegenen Waldsee spazieren und stolpert
soo unglücklich, dass sie das Kind ohne Kinderwagen in den See
katapultiert? P-lease! Zähl doch mal eins und eins zusammen. Es ergibt
zwei!“. Frankos Auge zuckte.
„Das… Ich weiß nicht… Du redest Unfug!“, gluckerte er wenig überzeugend.
„Du weißt ganz genau, was wirklich passiert ist. Deine Mutter wollte dich
ertränken, um sich Steuervorteile bei der Bahn zu ergaunern und nur im
letzten Moment - vielleicht auch einen Moment zu spät, wenn ich mir dich
jetzt so anschaue - hat sie es sich anders überlegt und dir diese
idiotische Lügengeschichte aufgetischt. Du bist besessen! Besessen
von einer Lüge deiner infantiziden Mutter!“
Franko sah orange.
Er drückte die Banane mit aller Kraft zusammen, doch anstatt einer
lauten Explosion gab sie bloß ein enttäuschendes Matschen von sich und
ein großer Teil der überreifen Frucht fiel müde vor seine bebrochenen
Schuhe.
Fauchend stürzte sich Enne auf ihn, der ungleiche Kampf war schnell
vorüber, als sie sich mit ihren spitzen Zähnen in seinem Hals verbiss.
Frankos Welt wurde dunkel, er ließ seinen Blick zum Fenster schweifen.
Ein bewaffnetes Eichhörnchen blickte zurück.
Teil zwei folgt.