Atlantis
von James Perihel Azimuth
Endlich! Tess, die todesmutige Taucherin der Trabantenstadt, war an ihr
Ziel gekommen. Es war der 27. Juni 1903. Vor ihr lag die gewaltige
Pforte zu Atlantis.
Klar und
deutlich schimmerten die bronzenen Lettern über dem Portal, auch wenn
an dem ein oder anderen Buchstaben ein paar Muscheln knabberten:
ATL NTIS. Das zweite A schien im Laufe der Äonen das Zeitliche
gesegnet zu haben. Vielleicht hatte es ein Laternenfisch
herausgebissen, oder es war einfach heruntergefallen. Tess war es egal.
Nach so vielen fehlgeschlagenen Versuchen hatte sie es endlich
geschafft, die sagenumwobene versunkene Stadt befand sich direkt vor
ihr. Fast hätte sie es nach dem Faustkampf mit dem Hammerhai nicht
mehr bis hierher geschafft. Doch jetzt trieb der Hai mit dem Bauch nach
oben in stürmischer See, wo es nur noch eine Frage der Zeit war, bis
ihn die Möwen entdeckten und skalpierten, während sie in der Stille
der Tiefsee voller Ehrfurcht den triumphalen Moment ihres Sieges
einsog.
Des Sieges über den Spott ihrer bärtigen Kollegen von der
Kaiserlichen Tiefseetauchakademie in Stralsund, die ihr Steine in den
Weg gelegt hatten und während ihrer Trainingstauchgänge immer wieder
mit üblen Scherzen aufgelauert waren.
Des Sieges über die Häme ihrer
sechs Töchter, die sie für verrückt erklärt hatten und sich von ihr
abgewandt hatten.
Und nicht zuletzt des Sieges über ihre eigenen Zweifel, Atlantis doch noch zu
finden. Immerhin war sie jetzt auch schon 56 und hatte zunehmend
Probleme mit ihrem Gleichgewichtssinn.
Aber hier stand sie nun, in voller Tauchausrüstung, fit wie nie zuvor,
etwas müde zwar, aber das Adrenalin ließ sie die bisherigen Strapazen
vergessen.
Begonnen hatte ihre Reise drei Tage zuvor, oder genauer gesagt, drei
Tage und eine Nacht zuvor, denn es war stockdunkel und zwei Uhr
morgens, als sie in voller Montur vor dem wasserführenden Graben des
neuen Elefantenhauses im Zoologischen Garten von Berlin gestanden hatte,
beschienen von keinem Mondlicht, beleuchtet von keiner Laterne, denn
nachts waren die Lampen aus, es galt die kaiserliche Sperrstunde, auch
im Tiergarten. Angereist war sie mit ihrem neuen Fahrrad aus
französischer Produktion, einer Weltneuheit mit fantastischer Pneumatik
und elegantem Stahlrahmen, eine grazile Maschine, kaum zu vergleichen
mit dem harten Ruhrgebietsstahl aus deutscher Produktion. Sie hatte es
sorgsam im Gebüsch versteckt und mit einem Zahlenschloss gesichert
(der Code bestand aus ihrem Geburtsjahr, aber rückwärts, und auf
französisch). Den gußeisernen Zaun hatte sie mühelos überwunden, die
Silberäffchen am eingangnahen Käfig hatten keinen Alarm geschlagen. Dann war
sie schnurstracks und auf leisen Sohlen an den Pandas vorbei auf
möglichst direktem Wege zum neuen Elefantenhaus gehuscht. Zwar führte
die Diretissima direkt durch den Leopardenzwinger, aber nachts war die
Raubkatze sowieso meistens unterwegs, wie sie durch tagelanges
Aushorchen der beschnurrbarteten Tiergartenwächter im benachbarten
Schleusenkrug bei ihrer wohlverdienten Feierabendmolle herausgefunden
hatte. Als sie vor dem Elefantenhaus angekommen war, hatte sie ihren
Taucherhelm aufgesetzt, sich noch einmal vergewissert, dass sie ihre
letzten Spuren im märkischen Sand verwischt hatte, dann hatte sie sich mit
einem kaum hörbaren Platschen selbst in dem Wassergraben versenkt. Von
dem Moment an war sie in ihrem Element gewesen, mühelos hatte sie den
Weg mit ihrer Petroleumlampe gefunden, den ihr der Bibliothekar im
archäologischen Institut der Humboldt-Universität im Vertrauen
aufgezeigt hatte. Er war ihr ein wertvoller Verbündeter gewesen,
besaß er doch die Gesammelten Werke von Plato und auch die Alten
Dialoge von Eurokrastes über die sagenumwobene Stadt Atlantis.
Außerdem hatte er einen über die Maßen ausgefeilten Zugang zu den
Karteikästen der Bibliothek wie sonst kaum jemand. Dort hatte sie also
ihr letztes Puzzlestückchen erhalten, sie musste daran denken, ihn
nach ihrer Rückkehr doch einmal in ihren Palais zum Kaffeetrinken
einzuladen.
Nach drei Tagen unter Wasser war sie jetzt also endlich angekommen!
Tess stand breitbeinig vor dem Portal, eine magische Anziehungskraft schien
von ihm auszugehen. Wie ein magnetischer Sog, der sie erfasste. Noch
einmal prüfte sie ihre Petroleumlampe, ein paar Stunden würde sie
noch Licht geben, dann müsste sie zurück zu dem Versteck bei der
garstigen Muräne, wo sie ihren letzten Vorrat verstaut hatte, der sie
sicher zurück in den Zoologischen Garten geleiten würde. Dann
schritt sie voran. Mit sicherem Tritt gelangte sie durch die
Pforte. Und was sie dann zu sehen bekam, überstieg ihre
Vorstellungskraft!
Vor dem Portal nicht einsehbar, jetzt zu ihren
Füßen in einem riesigen Talkessel, lag eine gewaltige Stadt, über der ein safranfarbener samtiger
Schimmer schwebte. Und es war keine Ruinenstadt, weit gefehlt – die
Stadt lebte, pulsierte, es gingen sogar Menschen in ihr herum!
Kutschenartige Gefährte, die ohne Pferde fuhren, dafür aber
glitzernden Staub hinter sich herzogen! Menschenartige Wesen
(Menschen?) mit goldenen Haaren, die in Zweier- oder Dreiergruppen
elegant flanierten! Gewaltige Gebäude mit Kuppeln, so groß wie das
Tempelhofer Flugfeld vor den Toren Berlins! Tess kam aus dem
Staunen nicht mehr heraus. Kurz vor der Besinnungslosigkeit riss sie
sich am Riemen und beschloss, weiter zu gehen. Nach etwa einem Ellen
Metern gelangte sie an eine Dreiergruppe von Goldhaarigen und sah sie
fragend an. Diese schauten neugierig zurück. Sprachen sie deutsch?
Tess probierte es:
„Entschuldigen Sie vielmals, aber ich bin zu Besuch hier, sind Sie von
hier?“
Einer, der kleinste der Goldhaarigen, antwortete:
„Aber natürlisch, Madame, das hier ist unsere Stadt! Wie können wir Ihnen
helfen?“
Tess, dankbar, wenn auch verwundert ob der Sprachkundigkeit der
Goldhaarigen, war überglücklich.
„Mein Herr, sehen Sie mir meine Freude nach, aber ich hatte mir
Atlantis nicht so… wie soll ich sagen… lebendig vorgestellt! Das
ist ja eine phantastische Entdeckung! Ich komme aus Neukölln, müssen
sie verstehen!“
Der Kleine schien leicht verdutzt.
„Aha. Hm, aber hier muss ein kleiner Irrtum vorliegen, dies hier ist
nicht Atlantis, unsere Stadt heißt Atl
Ntis, haben Sie nicht unser prächtiges Portal passiert? Es wurde
gerade erst renoviert!“
„Ob der phonetischen Ähnlichkeit ist Ihnen dieses Missverständnis
natürlich nicht zu verdenken“ warf der zweite Goldhaarige ein, und der
dritte, mittelgroße, fügte hinzu:
„Kommen sie, ist doch auch egal, wir laden Sie zum Brunch
ein! Erzählen Sie uns von Atlantis, davon haben wir noch nichts
gehört! Ist das auch eine Stadt?“
„… aber… was…“ Egal? Egal?? Tess wusste nicht wie ihr geschah. Das konnte doch
nicht sein! Nicht Atlantis? Hatte der Bibliothekar gelogen? Scheiße!
Was für ein Reinfall. Tess wandte sich rüde ab, ohne sich noch einmal umzublicken, und trat ihre Rückreise an. Ihr Lebenswerk, dahin. Sie holte sich ihren restlichen Petroleumvorrat bei der Muräne ab, die einigermaßen verdutzt war, dann schwamm sie erschöpft und zornig gen Berlin, fest entschlossen, den Bibliothekar zum Kaffeetrinken einzuladen. In seine Tasse würde sie Strychnin träufeln, und das nicht zu knapp.