Fett II - Cool wie Mayo
von Justin-Rolf Colt
Ulfgang schmierte sich die Mayonnaise großzügig auf das
„Bauernbrot“, welches er in Plastik eingeschweißt beim Discounter
seines Vertrauens erworben hatte. Daumendick, so hatte er es am
liebsten. Eigentlich wollte er abnehmen, aber es war ja gerade Corona
und der gelblich-weiße Fettstreifen auf seinem fabrikgefertigten
Brotimitat glänzte ihn geradezu verführerisch an. „Komm, iss
mich!“, flüsterte ihm sein Essen unverhohlen zu. Ein Bissen würde
ja wohl kaum schaden? Wenn man sich Dinge verbietet, erreicht man
sowieso nie seine Ziele. Er wollte nicht den Fehler begehen sich gleich
zu demotivieren, wo er sich doch gerade erst am Beginn seines
Abenteuers „Traumkörper“ befand.
Tatsächlich ging Ulfgang davon aus, dass er den Körper seiner Träume
schon längst besaß. Er musste nur geborgen werden. Mayonnaise besteht
nicht nur zu 80-90% aus Fett. In der Regel sind auch 1-1,5% Eiweiß in
ihr enthalten. Ulfgang war ziemlich schwer, was bedeutete, dass seine
Muskeln weitaus mehr Arbeit verrichten mussten als die gewöhnlicher
Menschen. Die konstante Versorgung mit Mayoeiweiss musste dazu geführt
haben, dass sich unter all der Scham und all dem Schwabbel ein Körper
befand, der jetzt schon bereit für Strände und gehobene Bordelle war.
Ulfgang musste ihn nur finden und aus seinem Körperfett bergen. Er sah
das archäologisch. Er würde nach seinem Mayonnaisebrot gleich mit der
Ausgrabung beginnen. Einmal über den Friedhof joggen. Der war direkt
vor der Tür und joggen war einfach. Wie Gehen, nur in schnell. Nach
dem zweiten Mayonnaisebrot machte er sich eilig auf ins Erdgeschoss.
Als Ulfgang vor der Tür angekommen war, lehnte er sich erst mal
erschöpft gegen die Hauswand und keuchte wie ein überwundener Aal. Er
hatte die Anzahl der Treppenstufen vom ersten Stock herab
unterschätzt, und die frische Stadtluft schlug ihn mit ihrer relativen
Reinheit brutal in den Frontallappen. Erbrochenes kitzelte in einem
kurzen Moment der Panik die Unterseite seiner Zunge. Doch es gelang ihm
das Mayomagensaftgemisch zu bändigen und in die Untiefen seiner
Verdauung zurück zu drängen. Er fragte sich, ob es den Soldaten in
Afghanistan ähnlich erging. Er wollte nicht voreilig sein, aber ein
gewisses Heldentum konnte man ihm doch für seinen Wagemut kaum
absprechen? Andererseits wollte er es unbedingt vermeiden, sich vor
seinem dreißigsten Lebensjahr eine posttraumatische Belastungsstörung
einzufangen. Cool bleiben, Ulfgang. Cool wie Mayo.
Nach einer halben Stunde betrat er mit neuer Energie den
Zentralfriedhof. Als er durch das eiserne Tor schritt, staunte Ulfgang
nicht schlecht als die Mittagssonne schnurstracks, wie ein geprügelter
Feuerhund am Firmament verschwand und nur noch fein säuberlich
platzierte Fackeln den Pfad zur Friedhofsmitte beleuchteten. Das Tor
fiel hinter ihm mit einem endgültigen Krachen ins Schloss. Ulfgang
traf wie so oft in seinem Leben die offensichtliche Entscheidung und
folgte dem fackelbeleuchteten Weg.
In der Mitte des Friedhofs angekommen bot sich ihm eine weitere
Überraschung. Eine weiß gedeckte Tafel erwartete ihn. Er joggte
langsam darauf zu. Auf einem silbernen Tablett thronte der vermutlich
größte Haufen Mayonnaise, den er in seinen sechs- oder
siebenundzwanzig Jahren Lebenszeit je gesehen hatte. Bestimmt mehr als
fünf Eimer! Ulfgang trat an den Tisch und begann sofort die Taschen
seiner microfasernen Sporthose mit dem weißen Gold vollzustopfen. Mit
bloßen, glänzenden Händen wühlte er durch das samtige Fett und
hörte auch dann nicht auf, als ihm ein Teil seiner Beute bereits aus
den Hosenbeinen rann.
„Nimm Platz, Mensch“ dröhnte eine Stimme von rechts oben aus der
Dunkelheit. Ulfgang hielt erschrocken inne und reagierte erst mal gar
nicht - eine Taktik, die sich für ihn bereits in vielen Not- und
zwischenmenschlichen Situationen bewährt hatte. Dann vernahm er ein
leises, piepsiges Kichern von weiter unten. Wegen seines hohen
Blutfettanteils waren seine Sinne besonders geschärft. Er kniff die
Augen zusammen und spähte tief in die Dunkelheit hinter dem
Fackelschein. „EY! EY, ich SEH euch! HALLO?! JA! ICH SEH EUCH!
EY!“, schrie Ulfgang aufgeregt, als er mit ausgestrecktem Arm seinen
Zeigefinger auf zwei kauernde Schemen zwischen den Grabsteinen
richtete. „EY, KOMMT RAUS! Ich - SEH - euch!“. Ulfgang hörte ein
aufgeregtes, piepsiges Flüstern und kurz darauf kamen zwei, jeweils
etwa 1,40m große Gestalten mit gesenkten Köpfen aus ihrem Versteck
geschlurft. Eine von ihnen ließ einen Gegenstand zu Boden fallen,
welcher später von Wissenschaftlern als Mikrofon-mit-Sprachmodifikator
identifiziert werden sollte und nach seiner Kommerzialisierung ein Hit
bei Kids und Rentnern wurde. Die Ertappten waren von grün-gräulicher
Farbe und äußerst mager. Ihre Köpfe aber waren aufgeblasen wie
Luftballons und ihre schwarzen pupillenlosen Augen schienen jeden
Moment aus ihren Schädeln zu bersten.
„Hallo Ulfgang“, sagten sie mit einer Stimme. „Wir sind
gestrandete Aliens aus den unendlichen Weiten des Weltraums. Hilf uns
und wir werden dir einen Wunsch erfüllen.“ Ulfgang fiel auf seine
Standardtaktik zurück und verharrte wie ein fetter, eingefrorener
Hase. „Wir müssen Satan besiegen. Nur sein Reich birgt genug
Energie, um unser Raketenschiff wieder flott zu kriegen.“
„Woah, Satan?!“, entfuhr es Ulfgang - der Schock saß zu tief, um
die Eisnummer aufrecht zu erhalten. „Das ist mir eine Nummer zu
heiß, Freunde. Wie kommt ihr denn ausgerechnet auf mich?“ fragte er
die ballonköpfigen Aliens. „Dein Körperfett schützt dich vor
dämonischer Einflussnahme!“, antworteten sie wieder unnötig, nach
Ulfgangs Auffassung, synchron.
Er überlegte. Das Silbertablett war leer und er hatte es geschafft mehrere Kilo Mayonnaise in und über seine Sportkleidung zu verteilen. „Wisst ihr was?“, sagte er nachdenklich. „Ich glaube, ich habe bereits alles, was ich brauche. Ich kann jetzt akzeptieren, wer ich bin. Ich bin ein Typ, der gerne Mayo isst und deswegen vermutlich nicht die 30 erreicht, aber es ist meine Entscheidung, mein Leben, und ich bin wunderschön. Ihr Aliens, ihr müsst endlich lernen, eure Probleme selbst zu lösen und Verantwortung zu übernehmen. Lasst doch Satan seine Energie. Lernt das Leben zu genießen, esst mal ’ne Mayo, trinkt Cola Zero und versucht nicht immer, den Problemen davon zu laufen!“
Die Aliens standen regungslos mit ihren hässlichen, offenen Mündern vor Ulfgang und schauten ihn mit Bewunderung an. Dann - ein Rascheln hinter einem Grabstein. Ein Wesen, halb Mensch, halb Ente trat hervor. Es war mittlerweile wieder helllichter Tag. „Satan!“, entfuhr es Ulfgang und den Aliens, angemessen, nach Ulfgangs Auffassung, zugleich. „Ja, ich bin’s!“, sagte Satan mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht. „Ich habe euch schon eine ganze Weile belauscht und ich muss sagen ich bin wirklich beeindruckt, Ulfgang. Du bist hierher gekommen, um deinen Körper zu finden, wurdest in eine dämonische Alienintrige verwickelt und doch bist du dir stets treu geblieben und deinem Herzen gefolgt. Jetzt stehst du hier und wir können alle von DIR lernen. Danke für deinen Mut. Für mich bist du der coolste Held. Cool wie Mayo!“
Alle weinten vor Freude, und gemeinsam verbrachten sie den Tag in Freundschaft auf dem Friedhof, während sie sich gemeinsam an der angetrocknete Mayonnaise aus Ulfgangs Hosentaschen labten.
Diese Geschichte zu lesen ist in etwa so wünschenswert wie eine Wiederholung des Vietnamkriegs.
Zollamt Wiesbaden