Ingwer über Bonn
von Ronny Schnaps
Die Feuer der brennenden Stadt wurden im Sicherheitsglas der großen
Bürofenster reflektiert. Obwohl er sich im 38. Stock des Bonner
Post-Towers befand, drangen immer wieder einzelne, verzweifelte Schreie
zu ihm hoch. Da war er also, der Kollaps. Kai-Pflaume hatte ihn kommen
sehen, aber die Plötzlichkeit, mit der die Welt um ihm herum auseinanderbrach, beeindruckte ihn dennoch. Gut, dass er sich vorbereitet hatte. Er war jedoch kein paranoider Durchschnittprepper. Kai-Pflaume hatte keinen Bunker, kein bärenfallenvermintes Grundstück und keine Sammlung von
abertausenden Konservendosen. Kai-Pflaume hatte sich mental vorbereitet.
Einstellung war alles. Das hatten ihn diversen Life-Coaches, für deren
Rat er sich hoch verschuldet hatte, in Bezug auf sein Vermögen gelehrt
und er wusste diesen Rat auch auf die Apokalypse anzuwenden. Mentale
Vorbereitung war der Schlüssel – und, oh Boy, hatte Kai-Pflaume sich
mental vorbereitet.
Fünf Minuten nach der ersten Explosion im Bonner Zentrum hatte
Kai-Pflaume in den mentalen Survivalmodus umgeschaltet. Sein erstes Ziel
war, mindestens ein gebärfähiges Weibchen einzufangen. Was würde ihm sein
eigenes Überleben nützen, wenn die Spezies und damit die Bewunderung und
Anerkennung seiner Mitmenschen für ihn ausfielen? Er hatte seine
Praktikantin Bettina im Kopierraum eingesperrt. Eigentlich war sie ihm
etwas zu klein und fett (er schätzte etwa 50kg auf 1,73m), aber darauf,
dass der Untergang der westlichen Welt mit Kompromissen einhergehen
würde, hatte er sich mental ebenfalls vorbereitet. Er hatte wirklich an
alles gedacht. Es ging weiter mit Punkt zwei seiner mentalen Liste:
Nahrung.
Hurtig schnappe sich Kai-Pflaume das alte Faxgerät im Flur, dessen
Anblick ihm schon lange ein Dorn im Auge war und erschlug damit hastig
seinen Kollegen, Squashpartner und guten Freund Kai-Pflaume (die beiden
waren nur zwei von sieben Post-Tower-Mitarbeitern, die den
ungewöhnlichen Vornamen trugen). Er ignorierte die entsetzten Schreie
seiner restlichen Kollegen und zog den anzuggekleideten Leichnam in sein
Büro, um ihn auszubluten und mit einem Sack Streusalz zu pökeln, den er
zuvor illegal aus der Tiefgarage entwendet hatte.
Wasser war Nummer drei auf seiner Liste und eine seiner leichtesten
Mind-Power-Übungen. Mental fokussiert hatte er ruck-zuck mehrere
Kanister für Wasserspender in sein Büro gerollt und sich damit einige
durstfreie Wochen in Aussicht gestellt.
Der nächste Punkt auf seiner Liste waren Waffen, und Kai-Pflaume war
super motiviert.
Bettina schminkte sich derweil im Kopierraum. Sie wurde jetzt bereits zum dritten Mal von einem Vorgesetzten im Kopierraum eingeschlossen und wie immer war sie ziemlich aufgeregt. Ein gewisses Misstrauen konnte sie aber diesmal nicht ganz abschütteln. Sie hoffte wirklich, dass es das letzte Mal war. Eine alte Wahrsagerin, die sie auf einem Jahrmarkt so lange im Schwitzkasten gehalten hatte, bis sie Bettina Auskunft über ihre Zukunft gegeben hatte, prophezeite ihr, dass sie die Mutter eines neuen Zeitalters werden würde, wenn sie sich nur zur rechten Zeit vom rechten Mann in einem Kopierraum einschließen ließe. Bettina dachte seitdem an nichts anderes mehr. Ihr ganzes Leben hatte sie auf diesen entscheidenden Moment ausgerichtet. Das erste Mal war ein enttäuschendes Versehen. Sie wäre fast verdurstet, und die Kollegen staunten nicht schlecht, als man sie nach einem langen Wochenende völlig verwahrlost in dem kleinen Kämmerchen vorfand. Es stellte sich raus, dass die Tür nur geklemmt hatte, aber Bettina hatte vor Aufregung voreilige Schlüsse gezogen und die Türsituation nicht genauer ins Auge genommen. Das zweite Mal war ein normales Bürosexding und ebenfalls ziemlich enttäuschend. Diesmal mal aber würde es klappen. Sie spürte es. Dieses mal würde eine andere Zeit für Bettina Schrumpf und die Menschen, die ihr Untertan sein würden, anbrechen.
„KOKSTRAUM, KOKSTRAUM!“
Kai-Pflaume erwachte mit einem Stöhnen. „Puh, ich hoffe das war nur ein intensiver Kokstraum“, sagte er zu sich. Er trat zu den großen Bürofenstern und blickte enttäuscht durch das Sicherheitsglas auf die Ruinen von Bonn. Ja, die Welt gehörte ihm, aber es gab kein Koks mehr – und keine Zukunft für die Menschheit. Bei aller mentalen Vorbereitung war Kai-Pflaume ein wichtiges Detail entgangen. Seine überhastet eingefangene Frau und ehemalige Praktikantin Bettina Schrumpf war Vegetarierin. Die einfach gestrickte Büroangestellte hatte sich stur geweigert, die Kadaver ihrer Kollegen gemeinsam mit ihm zu verspeisen. „Weißt du eigentlich wie schädlich das für die Umwelt ist?!“, hatte sie ihn wieder und wieder angefaucht, während sie ihn in ihrem eisernen Schwitzkasten hielt. Doch nach einer Weile schwanden ihre Kräfte, und Kai-Pflaume konnte wieder durchatmen. Sie verhungerte nach wenigen Tagen enttäuscht im Kopierraum. War das nun auch das Ende von Kai-Pflaume? Nein! Er schnappte sich seinen Roboterhund und machte sich auf den Weg zum nächsten bewohnbaren Planeten in der Milchstraße. Das auf ihn ausgesetzte Kopfgeld beträgt mittlerweile 20.000 DM.
Gelogen? Ja, aber jedes Wort entspricht der Wahrheit.
Ronny Schnaps (in Untersuchungshaft)