Wolle Eis?!
von Ficky Zwölf
Wie ein erschütterndes Donnergrollen brachten ihn die Kopfschmerzen wieder zu Bewusstsein. Jeremy Bordeaux entfuhr ein erschöpftes Stöhnen. Als er langsam seine Augen öffnete, lichtete sich vor ihm ein dunkler Nebel, der sofort von grellem Sonnenschein abgelöst wurde. Er stöhnte abermals, als das Licht wie ein Hammer auf seine Netzhaut einschlug. Seine Zunge fühlte sich wie ein trockenes Stück Leder an, das ihm aus dem schmerzenden Rachen hing. Seine Nase pochte, wie nach einem verlorenen Boxkampf, und seine Nasenlöcher waren verstopft mit geronnenem Blut. Trotz der widrigen Umstände versuchte Jeremy sich zu sammeln und einen Überblick über seine aktuelle Situation zu gewinnen. Er blickte mit seinen tränenden Augen an sich herunter. „Oha.“ Seine Füße baumelten ca. einen halben Meter über dem sandigen Boden. Er konnte sich an nichts erinnern, aber offensichtlich hatte sich jemand die Mühe gemacht, ihn in ein Stück Wüste zu schleppen und an einem Pfahl zu befestigen. Aber wieso waren seine Arme ausgestreckt? „Oh-oh…“ Jeremy sammelte all seine Kraft und bewegte seinen Kopf langsam zur Seite. Sein Verdacht bestätigte sich. Er war an ein Kreuz genagelt. Zum Glück hatte man sein Handgelenk so fest an das Holz gebunden, dass seine Hand völlig taub war und er von dem großen Nagel, der aus seiner Handfläche ragte, kaum etwas spürte. Er nahm an, dass er auf der anderen Seite nicht besser aussah und sparte sich eine Überprüfung. Vor ihm sah er nichts außer ein paar Felsen, die aus einem endlosen Meer aus Sand ragten. Jeremy ließ mutlos den Kopf sinken. Wie war er nur in diese missliche Lage geraten? Regungslos hing er so für etliche Minuten – oder waren es bereits Stunden? – an seinem Kreuz. Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war, wie er die Wanne verließ, in der er zuvor mit seiner Mutter gebadet hatte. Jeremy verlor erneut das Bewusstsein.
Hörte er da etwas? Ja! Musik. Eine Melodie. Ein Klassikstück,
mechanisch gespielt auf ein einer elektronischen Tröte. Gerade als
Jeremy erkannte, dass es sich um die ersten und sich ständig
wiederholenden Takte von Beethovens „Für Elise“ handelte, vernahm
er unter dem schrillen Getröte ein weiteres Geräusch: das ferne und
langsam lauter werdende Brummen eines luftgekühlten
Vierzylinder-Otto-Motors. Jeremy traute seinen ausgetrockneten Augen
kaum. Vor ihm parkte ein weißer VW-Bus, der die Aufschrift „Gelato
Discutibile“ trug. Gelato? Ein Eiswagen? Mitten in der Wüste? Jeremy
konnte sein Glück kaum fassen. Er machte ein leises Krächzgeräusch
vor Erleichterung. Diese blieb jedoch vorerst aus. Es passierte erstmal
gar nichts. Der Motor des Eiswagens war abgestellt, aber die Sirene
dröhnte munter weiter
„Didu-didu-didu-dudidudaaaa-dudidudaaa-dudidudaaaa“
Pause
„Didu-didu-didu-dudidudaaaa-dudidudaaa-dudidudaaaa“
Pause
„Didu-didu…“
Jeremys Ohren begannen zu schmerzen. Es war der
letzte Teil seines Körpers, der bis zu diesem Zeitpunkt verschont
geblieben war.
Nach unzähligen Minuten, oder waren es bereits Stunden?, öffnete
sich die Fahrertür. Ein dickbäuchiger Mann mit einem gewaltigen,
schwarzen Schnäuzer stieg aus dem Fahrzeug. Er trug ein weißes
Unterhemd, das von rotbraunen Soßenflecken geziert war, und von seinem
glänzenden Schnurrbart tropfte frisches Olivenöl. Ein echter
Italiener, dachte sich Jeremy. Er versuchte, den ungepflegten Mann
anzusprechen, doch außer etwas Stöhnen und Krächzen brachte er nicht
viel hervor. Der Italiener ignorierte ihn. Er öffnete die Seitentür
des VW-Busses, welche ein buntes Sortiment an gekühlten Süßspeisen
preisgab. Nur wenige Meter von Jeremys Kreuz entfernt fanden sich
allerlei aufregende Eissorten: Erdbeere, Vanille, Schokolade, alles war
dabei – sogar Malaga hatte der Italiener im Angebot. Dieser hatte sich
mittlerweile hinter der kleinen Eistheke eingerichtet und starrte
Jeremy mit einer südländischen Mischung aus Erwartung und
Desinteresse an.
„Wolle Eis?!“, fragte er Jeremy.
„Gnnn..“, antwortete Jeremy. Der Italiener starrte ihn weiter an. Sein Ausdruck
wandelte sich langsam von einem desinteressierten zu einem intensiven,
ja fast aggressiven Blick.
„Wolle Eis?!“, fragte er nochmal mit Nachdruck.
„Gnnnh.. !“, antwortete Jeremy verzweifelt. Er wollte Eis
und er wollte verdammt nochmal von diesem Kreuz runter, aus der Wüste
raus und keine Nägel mehr in den Händen. Aber er brachte es nicht
fertig auch nur ein verständliches Wort mit seinem zerschundenen
Gesicht zu formulieren. Nach einer Weile wurde es dem Italiener zu
viel. „Aschloch!“ fauchte er und stieg aus dem Bus. Beleidigt ließ
er die Seitentür zuknallen, stieg in die Fahrerkabine und startete den
Motor. Jeremy konnte es nicht fassen. Er wurde fast wahnsinnig vor
Verzweiflung ob des Verlusts der vermutlich letzten Gelegenheit, von
seinem Kreuz lebendig befreit zu werden. Mit aller Kraft presste er das
letzte Bisschen Feuchtigkeit in seine Zunge und krächzte mit aller
Kraft „Halt!“. Der Italiener kurbelte das Seitenfenster runter,
streckte seinen Arm aus dem Fenster und zeigte Jeremy den Mittelfinger.
Dann stieg mit dem Fuß aufs Gaspedal und lies Jeremy in einer
staubigen Wolke aus Sand und verbranntem Heizöl zurück. Jeremy sparte
sich das Weinen. Es hätte ja ohnehin nicht geklappt.
Nach einer weiteren bewusstlosen Episode kam Jeremy nochmal zu sich. Er spürte wie das letzte bisschen Leben in seinem Körper zu verdampfen begann – wie das Badewasser was er zuletzt mit Muttern geteilt hatte. Er lächelte. Er war bereit.
„Überraschung!“ Jeremy wäre hochgeschreckt, wenn er dazu noch in
der Lage gewesen wäre. Durch einen verwaschenen Schleier nahmen seine
rosinenartigen Auge eine Gruppe von Gestalten war. Er spürte, wie er
plötzlich schwerelos wurde. Dann landete er sanft im dem weichsten
Bett in dem er jemals gelegen hatte. Nach etwa 20 Minuten auf der
Krankenbahre kam Jeremy dank der Infusion langsam wieder zu sich. Um
ihn herum standen seine Arbeitskollegen aus dem Rewe in Mömbris, sein
Bruder Rolf-Zekoffski, und seine Mutter sowie Cassidy Swanson seine
Ex-Freundin (ebenfalls Rewe-Mitarbeiterin), die ihn alle erwartungsvoll
anschauten.
„Was…“, begann Jeremy, doch Cassidy fiel ihm ins Wort:
„Haha Bodo-J, damit hast du wohl nicht gerechnet, oder? Also, du
warst gestern in einen Autounfall, angeblich warst du betrunken, aber
das glaube ich nicht. Jedenfalls zuuu-fäll-ig bist du mit
Marcello-Tiger“, Marcello-Tiger, Jeremys Filialleiter vom Rewe in
Mömbris winkte und lächelte verlegen, „zusammengestoßen. Ich und
Henne-Henne und Krokodil-Ken waren zufällig auch dabei und wir
dachten, da du ja heute Geburtstag hast überraschen wir dich und
spielen dir einen kleinen Streich, lol. Wir haben dich also von
Menschenhändlern nach Dubai schleusen lassen, um dich hier ein
bisschen in der Wüste zu ärgern, aber dann hatte sich wegen des
schlechten Wetters unsere Flüge verspätet und, äh, deswegen wurdest
du hier ein bisschen länger geröstet als wir das eigentlich wollten.
Sorry! lol“ Jeremy war kaum in der Lage das Gehörte zu verarbeiten
und doch kam ihm ein Gedanke klarer in den Sinn als alles andere.
„Dann war der Italiener auch eure Idee?“, fragte Jeremy.
„Welcher Italiener?“, fragte Cassidy.
„Der Eismann! Der verdammte Eismann! Habt ihr den angeheuert?“
Cassidy machte einen Schritt zurück und
schaute Jeremy entsetzt an. Jeremy schaute in die Runde und stellte
erschrocken fest, dass alle mit dem gleichen Ausdruck von Entsetzen von
ihm Abstand nahmen. Plötzlich entflammten sich ihre Haare und mit
grellen Schreien löste sich Jeremys soziales Umfeld in eine Wolke aus
schwarzer Asche auf. Jeremy schaute sich um. Er war wieder allein in
der Wüste. Didu-didu-di…
Rassistische Stereotypen für billige Lacher. Pfui!
Luigi „Penne“ Macciato