Sternschnuppendämmerung (Teil 2)
von Fjóðórur Rágnárson
Fortsetzung von Teil 1
„¡Madre de Dios!“
Pablo, mein kleiner mexikanischer Freund, holte mich wieder zurück aus
meiner Traumwelt. Ich rieb mir die Augen. Langsam wurde mir wieder gewahr, in
welch großer Gefahr wir schwebten. Noch einmal blinzelte ich müde,
dann fielen mir die Schuppen von den Augen. Nachdem ich sie einzeln
wieder aufgelesen hatte – es waren derer ein vier Fünftel Dutzend
gewesen, welche glücklicherweise schillernd und unverkennbar auf dem
Basaltboden des Vulkanrands gelandet waren, so dass ich keine Mühe
hatte, sie wieder an die Linse zu platzieren – kam ich also zu der
Erkenntnis, dass ein auf einer Sternschnuppe reitender Ochsenfrosch
immer eine Gefahr darstellte, egal was er vorhaben würde. Und was er
plante, war für mich und meinen kleinen mexikanischen Amigo immer
noch, trotz aller Hirngespinste und Erfahrung in sämtlichen Übeln des
Okzidents wie des Orients, beim besten Willen nicht auszumachen.
Trotz dieser furchterregenden Erkenntnis hatte ich aber schon über die
Lösung nachgedacht. Die Formel des Fettwanstes mit der silbernen Krawatte
aus der Limousine! Hier musste ich ansetzen. Zu dumm nur, dass ich sie
mir nicht aufgeschrieben hatte. Aber es war ja auch alles so verdammt
schnell geschehen.
„Fuckolito hoch zehn!“, stieß ich aus, offenbar ein wenig zu harsch für den Geschmack
von Pablo, der zusammenfuhr.
„Señor?“ Er warf mir einen verzweifelten Blick zu. „Estamos perdidos!
Entonces, ¿qué deberíamos hacer?“
Pablo hatte ein Recht darauf, von mir aus dem Schlamassel gezogen zu
werden, denn ich hatte ihn ja zu diesem Ritt an den Vulkan überredet.
Naja, ich musste irgendwie an diese Formel kommen. Aber wie?
Ich konzentrierte mich wie ein Pferd beim Zahnarzt. Je mehr ich meine
Zähne aufeinander presste, desto mehr gelang es mir, mich in einen
Trancezustand zu versetzen, der mir hoffentlich Zutritt zu der
seltsamen Parallelwelt gewähren würde, in welcher die Limousine mit
der Formel im Kofferraum entschwunden war. Ich musste sie unbedingt
herausfinden, alles weitere würde sich dann schon ergeben. Ich ahnte,
dass ich wissen würde, was zu tun sei, denn die Formel würde es mir
verraten.
Mein Zahnfleisch begann zu bluten, so sehr presste ich. Wie eine
Grapefruit im Fleischwolf begann mein Zahnschmelz langsam aus dem Mund
zu laufen.
Da sah ich ein Licht. Klein zwar, aber radial. Eine gewaltige Kaffeebohne rollte in großen Blasen heran. Eine Kaffeebohne, wie ich noch keine erblickt hatte! Wie ein Vorbote der Apokalypse preschte sie heran und drohte mich zu überrollen. Sie war nicht nur gewaltig, sondern auch gewalttätig! Doch ich konnte gerade noch hinwegtauchen. Und plötzlich war überall Wasser! Ich war im Pazifik und kein Floß in Sicht. Ich schmeckte Blut, ein Hammerhai hatte mir einen Fuß abgebissen! Gar nicht so schlimm erstmal, denn ich spürte nichts. Ich tat ein paar hilflose Delfinschwimmzüge, kam aber nicht so recht voran. Ein kleiner Zwergdelfin kam herangeschwommen, nahm Tuchfühlung auf und mich kurz darauf huckepack. So trug er mich auf ein einsames Eiland. Und dann begannen die Halluzinationen.
Flirrende Flötentöne flammenbewehrter Flamingos tuteten um mich
herum. Odysseus konnte sich noch vor den Sirenen mit einem Trick
retten, aber ich war zu spät dran. Halb wahnsinnig vor nicht enden
wollendem Geräuschpegel richtete ich meine Hände zum Himmel und bat
Gott um Beistand. Meine Hände verwandelten sich in Kurkumaknollen,
größer und größer wurden sie, bis sie höllisch schmerzten. Ein
Beil hieb sie mir ab, und aus dem Äther stieß ein Zebra ein
wieherndes Lachen aus. Im aufwirbelnden Staub der Zeit flossen meine
Gedanken in den gigantischen Abfluss der stählernen Sanitäranlage im
Vorgarten des Herrn. Es rauschte und gurgelte fürderhin fürchterlich,
doch ich ließ mir nichts anmerken. Der Punkt der Verwunderung war
überschritten, ab nun balancierte ich auf dem Grad der luziden
Lässigkeit. Eine Skischanze tat sich auf, und ich stand oben und
fühlte mich wie ein Neunjähriger auf dem Zehnmeterbrett. Ein fieser
völkischer Beobachter wechselte aus seiner passiven Rolle und
nahm das Heft in die Hand, indem er mich kräftig die Schanze
hinunterstieß! Mit schreckgeweiteten Augen nahm ich Fahrt auf, und
nach fünfzig Metern gefiel es mir! Ich sauste herunter, fuhr schneller
als der Shinkansen und flog durch die Lüfte, direkt in einen Schwarm
Wildgänse auf dem Weg nach Jütland. Ich flog wie eine V2-Rakete, und die V-Formation meines Schritts
fügte sich nahtlos in die V-Formation der Zugvögel und ich drehte mir
eine Zigarre aus getrockneten Whiskyetiketten. Unter uns entstieg dem
Pazifik ein Atompilz aus halbseidenem Geschmeide, und über uns lachte
Gott sich ins Fäustchen. Rapunzel ließ ihr Haar herunter, ich
ergriff es und schon war der geflochtende Zopf zu einer exorbitanten Liane mutiert, die mich geradewegs
in einen lebendigen Vorhang aus Treiber-Ameisen zu katapultieren
drohte. Um mich herum die wildesten Regenwald-Geräusche! In diesem
Zustand des Duetts aus angespannter Emotion und lebhaftester Motion bemerkte ich ein
seltsames Muster in dem Verhalten der Ameisen. Ja, sie krabbelten zwar
wild hin und her, doch es gab ein Muster!
Da erkannte ich die Formel! Die Ameisen tanzten sie mir vor!
Ich prägte sie mir ein, und warf sie der Wirklichkeit an den Kopf.
Der Ochsenfrosch und die Sternschnuppe verpufften, als wäre nichts
gewesen. Es gab nicht mal einen richtigen Puff.
„¡Muchas gracias!“, meinte Pablo zufrieden.
„Gerade noch mal gutgegangen. Let’s go home.“
Wir ritten unsere Gazellen müde, aber mit einem Lächeln im Gesicht in
den Sonnenuntergang.