Gruppe 13


Räuberpistolen für den Hausgebrauch


Tod im Schatten der Mosaikjungfer

von Pjotr Zapatov

Die Mandibeln der riesigen Libelle wirkten überaus furchteinflößend, trotzdem es sich nur um eine überdimensionale Skulptur handelte. Diese lag auf der Seite im Sumpf, die Farben ihres Rückenpanzers blätterten langsam ab und vermischten sich mit dem Braun des Bodens zu einem undefinierbaren Farbton. Nur ein paar Wasserläufer, welche hier und da aus dem grünen Sumpfgras hervorkamen, sorgten für eine Störung der Wasseroberflächen. Dicke Käfer krabbelten in ihre Verstecke für die Nacht. Niemand sah, wie langsam eine menschliche Hand auf der Oberfläche herumtrieb, immer im Uhrzeigersinn. Sie war noch kaum verfärbt, eher weiß, hatte aber schon ein paar grüne fleckige Stellen. Ein auffälliger Ring mit einem eingefassten Lapislazuli-Stein befand sich an einem der toten Finger und reflektierte das letzte Abendlicht in den Facettenaugen der gigantischen Libelle.

Es war ein gewöhnlicher Morgen. Ich hatte den Spessartkurier aus dem Kasten gefischt, mir einen heißen kräftigen Kaffee aus somalischer Gerste aufgesetzt, wieder einmal zu schnell angefangen zu trinken, so dass mir der krümelige Kaffeesatz, welcher noch nicht auf den Tassengrund herabgesunken war, im Siebentagebart hing. Ich kümmerte mich nicht darum. Gerade als ich aber die Zeitung aufschlagen wollte, um die neuesten Cricketergebnisse der Sulzbach Juniors in Augenschein zu nehmen, klingelte das Telefon.
Ich war verdutzt. So früh am Morgen, um 11, bereits ein Telefonat? Was hatte das zu bedeuten? Ich ließ es sechsmal klingeln, und als es nach dem dreiundzwanzigsten Male noch nicht aufgehört hatte zu bimmeln, wusste ich, es musste etwas außergewöhnliches passiert sein. Ich nahm sofort den Hörer ab.
„Gasping-Schnappatmung, Private Ermittlungen und Ehebruch“, meldete ich mich wie gewöhnlich. Auf der anderen Seite des Hörers war nichts zu vernehmen, doch nach einer kurzen Pause meldete sich eine Frauenstimme in einem dunklen Alt.
„Mister Gasping-Schnappatmung? Ich muss Sie sehen, es ist dringend.“
Ich fackelte nicht lange und entgegnete: „In einer Viertelstunde im Café Glockenschrei. Sie erkennen mich an dem Button mit der Bassklarinette.“
„In Ordnung. Bitte seien Sie pünktlich.“
Pünktlichkeit war mein Geschäft.

Als ich die Tür des Cafés Glockenschrei in Aschaffenburg-Chinatown öffnete, ertönten fünf schreiende Glocken in einem berauschenden Dominantquartakkord. Es klang wie das Glockengeläut am Marktplatz von Speyer. Das war das Markenzeichen im Cafe Glockenschrei. Diskretes Auftauchen war hier zwar nicht möglich, aber dafür war ich unauffällig gekleidet und mischte mich sofort perfekt unter die hier abhängenden Gäste. Auf jedem Tisch stand eine Latte Macchiato. An jedem Tisch saß jeweils eine Frau. Die Hälfte von ihnen hatte rot lackierte Fingernägel.
Ich bewegte mich geschmeidig an den Ecktisch neben der integrierten Telefonzelle und rückte meinen Bassklarinettenbutton zurecht. Ein Zwinkern genügte, und schon hatte ich einen doppelten Espresso auf dem Tisch. Ich war bekannt in diesem Etablissement. Ich schlürfte meinen Kaffee hinunter und machte einen Uhrenvergleich zwischen meiner digitalen Armbanduhr von 1983 und der über der Telefonzelle hängenden alten Sonnenuhr. Meine Uhr ging 2 Minuten vor, aber das machte nichts. Im nächsten Moment öffnete sich die Tür, und eine zierliche Frau kam herein. Sie blickte sich um, erspähte mich und kam geradewegs auf mich zu. Meinen Button hätte ich mir sparen können, da ich der einzige Mann im ganzen Raum war.
Sie setzte sich an meinen Tisch.
„Mister Gasping-Schnappatmung? Danke, dass Sie gekommen sind.“
Ich nickte nur kurz. „Was kann ich für Sie tun?“
„Es geht um meine Schwester. Sie ist verschwunden.“
„Seit wann?“
„Letzten Samstag.“
„Vielleicht ist sie verreist?“
„Nein.“
„Oder sie hat viel zu tun?“ Es konnte viele Gründe geben, warum jemand ein paar Tage nicht erreichbar war.
„Nein. Sie verstehen nicht. Ihr WhatsApp-Status ist offline. Seit fünf Stunden.“
Ich schwieg. Damit war klar, ich hatte einen neuen Fall.

Der Profilname ihrer Schwester war AeshnaViridis69Y. Es war mir schnell klar, wo ich suchen musste. Am Stadtrand gab es den alten Atomic Dragonfly Fun Park. Hier würde ich des Rätsels Lösung finden. Der Park erstreckte sich über ein großzügiges Areal am Flussdelta stadtauswärts, fast direkt zentral im gleichschenkligen Dreieck zwischen den Kohle- und Nuklearkraftwerken, welche bereits seit dreißig Jahren vom Stromnetz genommen waren und vor sich hin rotteten. Im Kompetenzgerangel zwischen Hessen und Bayern war bis heute nie ganz klar geworden, wer eigentlich zuständig für die Entsorgung war. Lecke Fässer rosteten dort, die Radioaktivität war allerdings laut offiziellen Stellen nicht erhöht, und so war der Bereich für jedermann zur Erholung freigegeben. Das wurde zu dieser Jahreszeit glücklicherweise nur spärlich genutzt, so dass ich ungestört meine Nachforschungen anstellen konnte.
Ich parkte meinen Elektroroller am alten Kassengebäude und nahm meinen Helm ab. Ich stellte mir vor, wie es damals war, als ich hier als Kind ein und aus gegangen war. Die neueste Attraktion der Stadt, der Atomic Dragonfly Fun Park! Von einem Investor aus Karl-Marx-Stadt noch zu DDR-Zeiten kurz nach der Schließung des Nuklearkraftwerks errichtet, war es ein herrlicher Ort voller Gefahren und Attraktionen gewesen. Die riesigen Libellen konnten ihre Facettenaugen rollen und mit ihren Flügeln schlagen, und wenn man nicht höllisch aufgepasst hatte, hatte einen schnell mal ein messerscharfes Beißwerkzeug beim Actionparcours über den gefährlicheren Teil des Geländes erwischt. Nicht wenige meiner Schulkameraden waren auf der Trage der Sanitäter gelandet, welche mit einem Tropenhelm und Safariausrüstung ständig über den Platz eilten. Der Park hatte ein angeschlossenes Krankenhaus in städtischer Verwaltung, dessen Betten so gut wie nie leer standen. Eine Win-Win-Situation und erfolgreiches Beispiel einer Public Private Partnership. Neben dem Actionparcours war die Hauptattraktion des Parks die Stählerne Paarung gewesen. Hierbei wurden jeweils 12 abenteuerhungrige Kinder in einen großen Schlauch gesteckt und dann an eine Libelle montiert. Diese flog dann zu einer Partnerlibelle, dockte an und presste alle Kinder mit Hochdruck in ihr Insektengegenstück. Die meisten der Kinder hatten danach genug, aber alle fanden es mindestens „oberlibellentittengeil“.

Aber das war lange her. Nun blickte ich in trauriger Stimmung auf die vor sich hinrostenden Riesenlibellen.
Ich krempelte mir meine Hosenbeine hoch und stapfte durch den nasskalten Sumpf über das Gelände. Ich war mir unsicher, wo ich meine Suche beginnen sollte, doch das Glück war mir hold. Ein Lichtstrahl traf mein geschultes Auge. Nanu? Da lag doch eine Mosaikjungfer verkehrtherum? Ich trat näher hin und holte meine Taschenuhr von 1927 heraus. Langsam ließ ich sie über dem Auge der Libelle pendeln, und dann hatte ich Gewissheit. Der Minutenzeiger wies mir den Weg zu einem alten Schuppen. Er war abgeschlossen, doch dahinter öffnete sich ein kleiner übelriechender Sumpf. Sofort erkannte ich mit messerscharfem Blick eine Hand darin! Sie gehörte zu einem Körper, nur schemenhaft durch das trübe Wasser zu erkennen. Ich fiel in Ohnmacht.

Doch nur kurz, dann erwachte ich wieder und riss mich am Riemen. Ich holte einen Spaten und schaufelte die Leiche aus dem Morast. Es stank bestialisch. Der Fall war gelöst.

Durch die erdrückenden Indizien konnte ich den Fall schnell lösen. AeshnaViridis69Y war von ihrer Schwester in den alten Atomic Dragonfly Fun Park gelockt und hinterrücks in den Sumpf gestoßen worden. Ein grausamer Tod! Um den Verdacht von sich zu lenken und gleichzeitig der Polizei zu entgehen, war sie zu mir gekommen. Insgeheim hatte sie einen Abschiedsbrief vorbereitet und ihrer Schwester ins Portemonnaie gelegt, welchen ich nach einer kurzen Untersuchung im Labor unter Zuhilfenahme einer alten Sherlock-Holmes-Geschichte aber als Fälschung entlarven konnte. Bevor die Polizei kam und sie festnahm, ging ich noch mit ihr aus, spendierte ihr einen Drink und erfuhr so allerhand Kurioses aus ihrer Familie. Das aber soll eine andere Geschichte sein.


Atemlos!
Spessartkurier

Lacking the usual Zapatov action, nevertheless meticulously written and always on the spot.
The damsel and the dragon – a bimonthly journal about odonata behaviour