Gruppe 13


Räuberpistolen für den Hausgebrauch


Giraffen greifen an

von Abdul-Hakim Murtadhy Saliba

Das Auto schoss um die Ecke. Es war voller Giraffen, vorne zwei, hinten zwei. Ihre Hälse schlackerten fliehkraftsynchronisiert aus den heruntergekurbelten Fenstern. Ein Cabrio wäre vielleicht die bessere Wahl gewesen. Mit quietschenden Reifen legte sich das Auto zur Seite und kippte bedrohlich. Mit eisig grimmigem Blick unter ihren buschigen Augenbrauen durchstachen die Giraffen ihre Umgebung, während ihnen fahrtwindbedingt Tränen in den Augen kumulierten. Niemand würde sich diesen wild entschlossenen Tieren in den Weg stellen. Bösartigkeit aßen sie zum Frühstück, Niedertracht gab es zum Mittagsnachtisch, und abends kippten sie sich eine Kugel Hass hinter die Binde. Hätte der Zoodirektor sie gesehen, wie sie in ihrem Auto dahinschossen, die Hälse schlackernd, der Blick funkelnd, er hätte sich auf der Stelle vor das Auto geworfen. Doch er war ja bereits tot. Der Blick der Giraffe am Steuer funkelte besonders.

Die Giraffen. Schon der Gedanke an die Tiere mit den langen Hälsen schickte dem Zoodirektor kalten Schweiß auf die Stirn. Ausgerechnet die Giraffen. Das letzte Mal, als sie zum Einsatz kamen, endete im Desaster. Nur mit großer Mühe ließen sie sich wieder ins Gehege sperren, und das auch nur, weil er sie mit einem blutigen Schildkrötenfleischteller locken konnte. Zoologen aus aller Welt waren sich zwar einig, dass Giraffen üblicherweise kein Fleisch verzehrten, doch diese Giraffen liebten das zähe Fleisch der Madagaskarschildkröte, und nur dieses. Weder mit Geld noch mit Streicheleinheiten ließen sie sich bewegen. Sie nahmen nur harte Währung: Schildkrötenfleisch. Es zu besorgen, kostete immer ein Vermögen. Der Import war verboten, die Ausfuhr ebenfalls. Was blieb, war äußerst riskante Schmuggelei, und manchmal Bestechung (was aber nur beim heimischen Zoll funktionierte).

Schnell wie ein Kugelblitz schossen die Giraffen in die Tankstelle. Sie zogen einen schillernde Ölspur hinter sich her. Vor der Zapfsäule 2 kam das Auto scheppernd zum Stillstand.
„Einmal volltanken!”, schrie die Giraffe auf dem Beifahrersitz aus dem nach hinten gekurbelten Dachfenster. Neben ihr ruhte lässig eine Hufe auf der Seitenlamelle.
Niemand kam, um dem Wunsch der herrischen Giraffe zu entsprechen. Niemand tankte voll. Niemand verstand Giraffisch.
Dem gelben Tier entfuhr ein hässliches Schnauben voller Wut. Es warf seinen gewaltigen Hals hin und her und holte sich damit prompt eine blutige Nase, als der Außenspiegel beim Aufprall der Schnauze zerbarst. Das tat weh. Dafür würde jemand bitter büßen müssen.
Die Giraffe zwängte sich unter Mühen aus dem kleinen verbeulten Sportwagen, warf ihren Mitfahrerinnen einen bedeutungsschwangeren Blick zu und hielt auf die kleine Tür zu, hinter der sie den Tankwart vermutete. Kleine Blutstropfen kleckerten dabei von ihrer Schnauze auf den Boden.

Zwei Wochen zuvor…

Unruhig stromerten die Giraffen hinter dem Gitter hin und her.
Von links nach rechts.
Von rechts nach links.
Sie nahmen Rosa nur halb interessiert wahr, sie war nur ein Nichts. Schnell senkte sie ihren Blick zu Boden, wenn die Tiere die Köpfe in ihre Richtung drehten. Nicht in die Augen sehen, hatte ihr der Zoodirektor eingebleut, nicht in die Augen sehen! Sobald die Giraffen Sie fixieren, werden sich Ihre Gehirnwindungen unter ihrem scharfen Blick entzünden, und Sie werden sich wünschen, nie geboren worden zu sein. Sie schluckte, als sie den Direktor so sprechen hörte. Niemals hätte sie gedacht, dass Giraffen solch eine Kraft haben würden. Es klang wie ein billiger Science-Fiction-Roman. Doch es war Wahrheit.
Linkisch versuchte die am nächsten stehende Giraffe, sie mit ihrem Blick zu fixieren. Ihre lange Zunge fuhr ihr über die Nüstern. Nicht in die Augen sehen. Bloß nicht in die Augen sehen. Langsam holte Rosa den präparierten Lolli in Schildkrötenbabyform mit dem GPS-Sender aus den Taschen. Die Giraffen schauten nun etwas interessierter, gaben sich jedoch Mühe, nicht zu interessiert auszusehen. Ein leises Schnauben entfuhr der kleinen Gescheckten.

Die Giraffe schnappte nach dem Lolli, den Rosa ihr hinhielt. Um ein Haar hätte sie ihren Finger abgebissen. Der Lolli verschwand krachend im Rachen des Tieres. Rosa war beeindruckt. Sie verstand, was ihr der Zoodirektor damals zugeraunt hatte, als sie beide vor der Sicherheitsglasscheibe standen, im Angesicht der Giraffen. Erst kam es ihr lächerlich vor, aber nun, da sie die Bösartigkeit der Giraffen am eigenen Leib spürte, wusste sie, dass der Direktor Recht gehabt hatte.
„Sie glauben also immer noch, dass Giraffen arglos Blätter von den Bäumen pflücken, mit ihrer langen Zunge, geborene Vegetarier also?”
„Was wollen Sie mir sagen, Herr Direktor?”
„Was ich sagen will, ist folgendes, und hören Sie mir gut zu! Diese Giraffen essen keine Baumblätter. Sie essen Schulterblätter.”
Sinister blickte die Giraffe sie an. Es kam ihr so vor, als könne das langhalsige Tier ihre Gedanken lesen. Es schien leicht zu grinsen.

Wie waren sie in diese kritische Phase der Menschheit geraten? Drei Tage zuvor hatte sich folgendes ereignet:

„Süüüüß!”, säuselte das Mädchen im lindgrünen Kleid zu seinem Großvater. „Darf ich sie streicheln?”
„Mensch Marlene, meinst du, die will gestreichelt werden? Die hat doch so einen langen Hals, bestimmt, weil sie lieber nicht betatscht werden will von einem frechen Gör wie dir, he!”
Der Großvater lachte dreckig und zog an seiner filterlosen Zigarette.
„Streicheln! Streicheln! Streicheln!”, bettelte das Mädchen, und zog an der Hand ihres Großvaters. Der aber gab sich unbeeindruckt und tat genüsslich einen weiteren Zug.
„Streicheln! Ich will die streicheln!”, schrie die Kleine weiter, und die anderen Zaungäste blickten bereits etwas ungehalten in ihre Richtung. Immer diese Leute, die ihre Kinder nicht im Griff haben, schien ihr Blick zu besagen, es ist eine Schande.
„Streicheln! Sofort! Streicheln!”, kam es in immer schnellerer Abfolge unermüdlich von dem Kinde. Der Großvater wurde mürbe.
„Marlene, hör sofort auf, so zu brüllen! Na gut, dann streichel sie eben, aber dann bist du still, verstanden?”
Die Kleine verstummte sofort und strahlte über beide Ohren.
„Heb mich hoch, Opa!”, freute sie sich. Der Großvater seufzte, machte eine Dehnübung, knackte mit den Fingern und hob die Kleine schließlich hoch, der Giraffe entgegen, ganz knapp über den Zaun.
„Streicheln! Streicheln! Streicheln!”, blökte die Kleine.
Die Giraffe fackelte nicht lange. Ihr Kopf flitschte wie an einem Gummiband über das flache Gitter. Es gab ein dumpfes Krachen, dann sah man den verdutzten Großvater auf seine blutigen Handstümpfe starren. Die Giraffe hatte seine Enkelin verschluckt. In dichten Fontänen schoss das Blut aus den Armen des Alten und färbte den Boden in ein pittoreskes Rot. Die anderen Zoobesucher in der Nähe waren zu schockiert, um zu schreien. Mit weit aufgerissenen Augen glotzten sie am langen Hals der Giraffe hinauf. Die Giraffe starrte kalt zurück. Ihr Kiefer knirschte hässlich. Es herrschte eine angespannte Stille. Eine Amsel pfiff vorsichtig, verstummte aber schnell. Nach Minuten der Angst erklang eine zerborstene Männerstimme in weinerlichem Gewimmer.
„Ein Arzt? Ist denn hier kein Arzt?” Der Sonntagnachmittagskaffee würde heute ausfallen müssen.

Der blutige Vorfall im Zoo hatte die kleine Stadt schockiert. In hastiger Eile wurde der Giraffentrakt von Sondereinheiten der Polizei isoliert und abgesichert. Tag und Nacht schoben die Sicherheitsleute Dienst am Gehege. Der Zoodirektor wollte die Tiere unverzüglich einschläfern lassen, doch die Bürgermeisterin hatte dies energisch verhindert. Gegen ihr Wort wollte der Direktor sich nicht stellen. Aber wie sollte es weitergehen? Warum hatte die Bürgermeisterin einen solchen Druck auf ihn ausgeübt? Gab es etwas, was er nicht wusste?

Der nächste Morgen hatte schön begonnen, etwas neblig zwar, aber die Vögel zwitscherten ihre fröhlichen Lieder. Ganz nach seiner Gewohnheit ging der Direktor seinen frühmorgendlichen Kontrollgang durch den Zoo – trotz seiner inneren Aufgewühltheit ließ er sich nicht von diesem Ritual abbringen. Er ging am Affenfelsen vorbei, klopfte kurz an die Scheibe des Regenbogenfisches, um ihn aufzuwecken (und tatsächlich kam er wenig später unter der großen Muschel hervorgeschwommen), und schlug dann auf dem Weg in sein Büro noch kurz vor dem Raubtiergehege sein Wasser ab. Es sah ja keiner, und immerhin war er hier der Direktor, diesen Spaß sollte ihm niemand verwehren dürfen. Nachdem er also sein übliches Morgenritual erledigt hatte, konnte der Tag kommen. Er konnte nur besser werden als der gestrige, dachte er bei sich. Als er an den bösartigen Blick der Giraffen dachte, überlief ihn ein sanftes Schaudern. Zum Glück waren sie eingesperrt, nun verlegt ins Raubtiergehege. Mittelfristig konnte es jedoch nicht so bleiben. Er hatte schon die Hand an die Tür zum Verwaltungsgebäude gelegt, da rutschte ihm sein Herz in die Hose. Die große Pforte zum Raubtiergehege stand offen.

Die Arglosigkeit der Zahnärztin spielte den Giraffen zweifelsohne in die Hände. Es bereitete ihnen keine Mühe, die kleine Frau zu überwältigen, nachdem sie geschickt den richtigen Moment abgewartet hatten; die Sprechstundenhilfe war gerade auf dem Weg ins Röntgenzimmer, und der letzte Patient im Wartezimmer – ein großgewachsener Bursche, welcher ob seiner kräftigen Statur anfangs noch einen kleinen Unsicherheitsfaktor für den verwerflichen Plan der Giraffen dargestellt hatte – war mittlerweile sicher im Klo eingeschlossen. Frau Doktor Huselbims hätte es gleich etwas seltsam vorkommen müssen, dass zwei Giraffen sich für eine Vorsorgeuntersuchung anmeldeten, wäre doch eine Überweisung an die Veterinärmedizin angebracht gewesen.
Nun saß sie geknebelt und gefesselt auf dem roten Stuhl, welcher normalerweise ihren Patienten vorbehalten war, und musste mit ansehen, wie die zwei ungewöhnlichen Besucher in Windeseile ihr Handwerkszeug plünderten, wobei sie ein besonderes Augenmerk auf Skalpelle richteten. Sie legten anscheinend keinen Wert darauf, ihre Anonymität zu wahren, und trugen keinerlei Maskierung. Und so konzentrierte sich die geknebelte Ärztin, sich ihre Gesichter gut einzuprägen, um im Falle einer späteren Gegenüberstellung gewappnet zu sein. So etwas durfte doch nicht straflos bleiben. Ihre Rucksäcke waren mittlerweile voll, hin und her klapperte lustig das silberne Arbeitsbesteck. Mit dem Bohrer im linken Huf drehte sich schließlich die kleinere der beiden kriminellen Giraffen zum Zahnarztstuhl um. Der geschliffene Diamant blitzte im schwenkbaren Spiegel kurz grell auf. Aus der linken Lefze des wilden Tieres rann silbriger Speichel. Sie schien zu grinsen. Frau Doktor Huselbims zweifelte, ob die Giraffe Erfahrungen in der Zahnsteinprophylaxe vorweisen konnte. Ein Schalter klackte, und der Bohrer fing an zu summen. Verträumt wiegte die Giraffe den Bohrer in der Hand, gleichsam einer wunderbaren Melodie lauschend. Doch schon wurde sie unversehends aus ihrem tranceartigen zustand gerissen: ein lauter Knall schallte von der Eingangstür heran, und laute Schreie zerrissen die Luft,drängten sich vor dem Schlüsselloch und platzten dann eines nach dem anderen ins Zimmer, wo sie geräuschvoll zerbarsten. Kampfartige Laute begleiteten das Geschehen.
Die beiden Giraffen wechselten einen schnellen Blick, und sprangen dann ohne zu zögern aus dem Fenster, dessen Glas in tausend Scherben splitterte. Frau Doktor Huselbims musste die Augen zukneifen und hielt den Atem an. Haselnüsse wehten von draußen ins Zimmer und kullerten über den Laminatboden bis unter die Schränke. Dann wurde auch schon die Tür aufgerissen und das Spezialkommando sprengte herein, in strengen schwarzen Skimützen, und unangenehm aussehenden Gewehren. Einer von ihnen stürzte zum Fenster und sah den flüchtenden Tieren hinterher, die bereits außer Schussweite die Straße hinunter galoppiert waren. „Scheiße”, sprach er in sein Funkgerät, „sie sind geflüchtet.” Ein anderer trat zur immer noch gefesselten Frau Doktor Huselbims und befreite sie aus ihrer misslichen Lage. „Sind sie OK?” Frau Doktor Huselbims rieb sich die Handgelenke und sah ihn mit hartem Blick an. „Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Die Giraffen aber haben meine Werkzeuge mitgehen lassen. Und zwar alle. Was haben sie nur damit vor?” Sie sah mit Entsetzen auf die offenstehende Schublade hinter den Bohrerbatterien. „Das atomwaffenfähige Uran scheinen Sie mir auch entwendet zu haben…” Ihr Befreier sah sie mit einem ungewöhnlich ängstlichen Blick an und blieb stumm, während sei Begleiter erneut in sein Funkgerät sprach: „Und sie sind jetzt auch bewaffnet.”

Dunkelheit durchfloss die kalten Räume der Almhütte. Wie die Nebelschwaden langsam den steilen Fichtenhang emporwaberten, so kroch die Dunkelheit durch das Holzhaus: in ruhiger, aber steter Bewegung.
Doch gänzlich dunkel war es nicht. Hier und da riss das fahle Mondlicht ein Loch in die Dunkelheit und gab einen Gegenstand frei, wenn auch nur für ein paar Sekunden. Ein angesengtes Polaroidfoto hing an brüchigem Tesafilm über dem Sekretär. Auf einer umgedrehten Kaffeetasse lag Staub in einer dicken Schicht, wie frischgefallener Schnee auf dem Kilimandscharo. Abgetakelte Spinnwebfäden hingen schlaff in der Luft, Zeugen einer längst vergangenen Zeit. Ein Glas Tinte lag auf der Seite, eine eingetrocknete Lache bildete einen dunklen See auf dem Buch, welches aufgeschlagen auf dem Tisch ruhte. In diesem Haus war schon lange niemand mehr gewesen – selbst die Spinnen waren längst verhungert, es mangelte an Beute.

Fahl hing die Sonne über dem Berggipfel und warf ein milchiges Licht auf das Wasserkraftwerk. Der Stausee lag ruhig eingebettet zwischen den Bergen. Die Kühe auf der angrenzenden Weide schienen sich nicht am dumpfen Surren der Turbinen zu stören; sie grasten stumpf und unbeeindruckt vof sich hin. Sanft kräuselte sich das Wasser in türkiser Farbe und schwappte gegen die Staumauer. Auf der dem Tal zugewandten Seite zog sich die Mauer hunderte von Metern in die Tiefe. Die Ingenieure hatten hier eine wahrliche Meisterleistung vollbracht. Das Kraftwerk galt als das zuverlässigste und stabilste seiner Art auf der Welt. Seit Jahrzehnten produzierten die Menschen aus den umliegenden Tälern bereits ihren Strom, und waren durch den Export an goldene Nasen gekommen. Die Dörfer ringsum schmückten sich mit schönen Häusern, fein herausgeputzten Gärten und renovierten Kirchen. Hier war der Wohlstand zu Hause. Am Horizont fuhr ein Cabrio langsam den Berg hinauf. Der Untergang der Welt würde in St. Bienenstich an der Blotsche beginnen.