Die Verwandlung des Peters
von Gundolf Bresenz
Keiner von ihnen war schuld. Die Zeit höchstens, der Zufall wahrscheinlich, vielleicht sogar Gott, wenn es den gab. Rüdiger hatte sich nicht verändert, da war er sich sicher. Und Peter? Tief in seinem Inneren war er doch auch noch der, der er immer gewesen war. Der Goldbär. Der Kuschelwal. Die sweete Hamsterbacke. Es war einfach soviel um sie herum passiert in letzter Zeit, die tektonischen Platten, auf der sie ihre Beziehung einmal aufgebaut hatten, waren auseinandergedriftet, und damit Rüdiger und Peter separiert.
Dabei hatte alles so romantisch angefangen. An einem wunderschönen Sommermorgen hatte Peter sich morgens aus dem Bett geschlichen. Er hatte Plätzchen gebacken, genauer gesagt ein großes Plätzchen, und es Rüdiger ans Bett gebracht. Das Plätzchen hatte die Form eines kleinen, schwarzen Kindes. Es roch köstlich. Rüdiger lächelte schlaftrunken, wischte sich die angetrockneten Spuckereste der Nacht aus den Mundwinkeln und brach sich das linke Bein des Kindes ab. Mit vollem Mund fragte er Peter lachend: „Wie hab' ich mir das denn verdient?“
Peter sah ihn ernst an: „Lass' uns ein Kind haben. Genau so eins.“
Er deutete auf das dunkelbraune Gebäckstück.
„Lass' uns nach Südamerika fahren und ein Kind holen. Genau so eins“, wiederholte er.
Rüdiger war etwas überrumpelt, brach sich aus Verlegenheit das zweite Kinderbein ab und steckte es sich in den Mund.
„Genau so eins? Ohne Beine?“, lachte er und krümelte die Bettdecke voll.
„Ist mir ernst, Rüdi“, antwortete Peter mit vorwurfsvollem Gesichtsausdruck. „Flieg' mit mir nach El Salvador. Morgen. Ich hab schon alles eingefädelt“
Rüdiger schaute hin und her im Raum herum, sein Blick landete auf dem Plätzchen-Tablett. Unter den abgebissenen Kinderbeinen sah er jetzt zwei Flugtickets. Peter hatte ernst gemacht. Und eigentlich fand Rüdiger den Gedanken doch auch ganz schön.
„OK“, sagte er. Peter warf sich mit einem hellen Freudenschrei aufs Bett und die beiden hatten leidenschaftlichen Analverkehr.
Nach einem zermürbend langen Flug mit Zwischenstopp in Bogota waren Rüdiger und Peter endlich am Flughafen südlich von San Salvador angekommen. Es war schwül und auf dem Weg zum Waisenhaus trank Rüdiger fast einen ganzen Kanister Cola. Der Taxifahrer hieß Elmer und war ein interessierter Mittvierziger mit für salvadorianische Taxifahrer ungewöhnlich heller Haut. Er fragte den Beiden auf der Fahrt Löcher in die Bäuche: wo sie herkämen, was sie da machten, wie viel sie verdienten und ob sie ein Paar wären. Als Rüdiger und Peter die letzte Frage lächelnd bejahten und sich küssten, bekreuzigte Elmer sich mehrmals.
Laut Karte sollte der Weg ins Weisenhaus knapp zwei Stunden dauern, aber Elmer fuhr schnell. Das wurde den beiden Adoptions-Touristen auch immer lieber, je weiter sie aus der Stadt heraus und in die ländlichen Gebiete vordrangen, denn die Hütten und Menschen dort sahen besorgniserregend aus. Elmer hatte jetzt die Führung des Gesprächs übernommen und brabbelte in seinem schwer verständlichen Englisch vor sich hin. Sie fuhren über kleine, schlecht asphaltierte Sträßchen durch dunkles, dicht bewaldetes Gebiet und Rüdiger fragte sich, ob es denn keine besser ausgebauten Wege nach Soyapango, der Stadt in der das Waisenhaus sein sollte, gab. Plötzlich kam das Taxi abrupt zum stehen. Ein Baum lag quer über der Straße. Elmer fluchte und begann den Wagen zu wenden. Peter sah nach draußen und meinte, eine Bewegung im Dickicht ausgemacht zu haben.
Elmer hatte den Wagen gedreht und fuhr jetzt mit quietschenden Reifen an, doch bremste sofort wieder ab. Rüdiger und Peter schauten nach vorne raus. Mitten auf der Straße, über die sie eben noch gefahren waren lag jetzt ein Mann, die Beine verdreht und den Kopf auf dem Beton. Sein Körper lag starr auf dem Boden, er bewegte sich nicht. Die Straße war an dieser Stelle so eng, dass Elmer nicht vorbeifahren konnte. Vor ihnen der wahrscheinlich Tote, hinter ihnen der umgestürzte Baum – sie waren eingekesselt.
Auf einmal kamen von allen Seiten aus dem Wald heraus dunkle Gestalten angelaufen. Einige trugen Kapuzen oder Mützen auf dem Kopf und jeder von ihnen hielt eine Waffe in der Hand. Rüdiger dachte im ersten Moment, die Männer wären schwarz, doch dann erkannte er, dass ihre Gesichter alle fast vollkommen tätowiert waren. Elmer schrie auf und trat das Gaspedal durch. Rüdiger und Peter wurden durchgeschüttelt, als sie über den am Boden liegenden Körper fuhren. Die Reifen drehten sich weiter, doch der Körper hielt den Wagen auf. Es gab nur ein schleifendes Geräusch und Rüdiger meinte, einige Knochen knacken zu hören. Sie steckten fest. Elmer schrie auf spanisch, legte den Rückwärtsgang ein und versuchte das Auto zu bewegen. Unmöglich.
Langsam und mit leerem Blick bewegten sich die gesichtstätowierten Männer auf das Taxi zu. Rüdiger zitterte am ganzen Körper, kalter Schweiß lief ihm die Stirn herunter. Peter saß einfach still auf seinem Sitz. Er war immer schon der mutigere und coolere der beiden gewesen, aber die abgebrühte Art, mit der er mit der Situation umging, beeindruckte und beunruhigte Rüdiger trotzdem gleichermaßen.
Die Angreifer blieben plötzlich stehen. Nur einer, anscheinend ihr Anführer, ging weiter auf das Taxi zu. Er stellte sich neben die Fahrertür, hob seine Maschinenpistole und schoss ohne ein Wort zu sagen und ohne die Miene zu verziehen auf den armen Taxifahrer. Glas klirrte, Blut spritzte. Rüdiger war jetzt im totalen Schockzustand. Sein Bein krampfte, er schluckte immer wieder, das Blut des Taxifahrers mischte sich auf seiner Stirn mit seinem Angstschweiß. Der Anführer der Killer-Bande ging langsam ein paar Schritte und stand jetzt ganz dicht vor der hinteren Seitenscheibe, direkt neben Peters Kopf. Rüdiger konnte die Gesichtstätowierung jetzt deutlich erkennen. Es war eine große „13“, die sich von der Stirn bis zu seinem Kinn zog. Ob diese Übeltäter von der Wilden 13 waren? Er verwarf den unsinnigen Gedanken gleich wieder. Aber es mussten fiese Kerle sein. Soviel war sicher.
Die Fieslinge forderten Rüdiger und Peter jetzt harsch auf Englisch auf, aus dem Wagen zu steigen. Die beiden sahen sich kurz an und taten dann, wie ihnen geheißen war. Als Rüdiger ausgestiegen war, bekam er gleich einen Tritt in den Rücken und fiel fast hin. Als Peter das Auto verließ passierte allerdings etwas, mit dem keiner gerechnet hatte: Ein Feuerwerk prasselte los. Ein dicklicher Mann entfleuchte dem Dickicht, in seinem Gesicht eine tätowierte „14“. Das musste der Ober-Anführer sein! Die Meute zuckte zusammen und bahnte eine Gasse für den Boss, der hindurchschritt, auf Peter und Rüdiger zuging und die beiden kritisch ansah. Nach eindringlichen Blicken zeigte er auf Peter, ließ sich vor ihm auf den Boden fallen und rief: „Reincernatio… EL PADRINO!“
Die gesamte Mannschaft ließ sich jetzt auf den Boden fallen und rief Peter mit gesenktem Haupt an: „EL PADRINO! EL PADRINO!“
Allem Anschein nach hielten die Gangster den deutschen Peter für die Reincarnation des Paten. Das war ziemlich absurd, da ja auch ihnen hätte bewusst sein müssen, dass der Pate ein fiktives Werk war – und Peter außer der Statur äußerlich eigentlich überhaupt keine Ähnlichkeit mit Marlon Brando hatte. Aber wenn es ihnen das Leben retten sollte: sei’s drum.
Peter wurde leicht rot, wußte nicht, wie ihm geschah, nahm dann aber doch das Zepter in die Hand und schrie mit hoher Stimme in einer seltsamen Mischung aus Spanisch und Unterstufen-Latein: „MEO EL PADRINO SUM!“ Die Männer jubelten und nahmen ihn auf die Schultern. Rüdiger wurde nicht mit so viel Aufmerksamkeit bedacht, aber da er augenscheinlich Peters Begleitung war, wurde er zumindest freundlich geduldet. Und nicht erschossen. Auch das war ja schon mal was.
Die nächsten Wochen verliefen im Gegensatz zu diesem kuriosen Spektakel eher ruhig: Peter und Rüdiger machten quasi Urlaub auf dem Anwesen des Gangsterbosses mit der 14 im Gesicht, sie bekamen alles, was sie wollten. Mehrmals wurden ihnen auch junge, knackige Frauen zur genitalen Belustigung angeboten, aber Peter und Rüdiger lehnten dankend ab und begnügten sich mit dem Geschlechtsorgan des jeweils anderen.
So ging die Zeit voran, Tage, Wochen. Irgendwann wurde Rüdiger langweilig, er begann Fingernägel zu kauen und mit dem salvadorianischen Bier, das man ihnen reichte, zu gurgeln. Peter dagegen genoss seinen Sonderstatus immer mehr. Er schlief bis mittags, ließ sich mit Pferdemilch salben, futterte Pupusas mit Koberinderhack und schaute CNN auf dem Beamer. Er schien seinen persönlichen Idealzustand erreicht zu haben. Und wurde dabei immer dicker.
Rüdiger telefonierte jetzt häufig mit seiner Mutter, denn sie lag in Rottweil im Krankenhaus und ihr ging es immer schlechter. Rüdiger machte sich Sorgen und flog schließlich zurück nach Deutschland. Nach einer zermürbenden Diskussion mit Peter, bei der Peter wie ein kleines Kind herumquängelte und auf den Boden schlug, einigten sie sich darauf, dass Peter eine Woche später nachkommen sollte.
Als Rüdiger drei Wochen später alleine im Wohnzimmer saß und weinte, klopfte es plötzlich an der Tür. Er hatte entgegen ihrer Verabredung seit seinem Abflug aus El Salvador nichts mehr von Peter gehört. Er hatte ihn versucht anzurufen, ihm SMS geschickt, Emails, Faxe und sogar eine Brieftaube. Nichts, kein Lebenszeichen. Jetzt das Klopfen an der Tür. Rüdiger sprang auf, rannte zur Tür und öffnete sie. Da stand ein Typ, rechts und links von ihm zwei Männer mit Waffen. Er sah ihn an. Es war Peter! Aber er hatte eine Gesichtstätowierung, eine große „15“!
„Peter!“, rief Rüdiger unsicher. „Wie schaust du denn aus? Warum hast du dich nicht gemeldet?“
Peter betrat die Wohnung, die zwei Gangster gingen neben ihm her. Peter sagte hochnäsig: „P-Dog. Nenn mich jetzt P-Dog. Das ist ein coolerer Name für einen G-g-g-gangsterbozz.“ Dabei verdrehte er unbeholfen die Finger zu einem Straßengangzeichen. Er stellte sich dabei so blöd an und seine Finger waren mittlerweile so wurstig, dass er mit der rechten Hand die Finger der linken Hand verdrehen musste. Es war wirklich unglaublich, dass die Gangster nicht langsam bemerkten, dass dieser „P-Dog“ nicht die Reinkarnation des Paten sein konnte.
„Peter“, sagte Rüdiger „oder P-Dog“, fügte er abfällig hinzu, „meinst du nicht, dass langsam Schluss sein sollte mit diesem irren Schauspiel? Du drehst doch völlig ab, merkst du das nicht? Du bist doch kein echter Gangster, du bist mein Freund, der Peter! Der, den ich beim Karneval kennengelernt habe im Rosa Papagei, der mit mir an Weihnachten immer Mary Poppins geschaut hat, der Eiskrem immer in die Mikrowelle tut, damit sie schön sämig wird…“
Bei jedem Wort, das Rüdiger sagte, schien es sich in Peter aufzubäumen. Die zwei Seelen des Peter V. kämpften einen Kampf. Der Gangsterboss (also eher der fette, faule Deutsche, der sich durch eine krude Verwechslung seit Wochen durch jedes südamerikanische Gericht fraß) und der bodenständige Callcenter-Angestellte und Lover von Rüdiger gingen in seinem Herzen aufeinander los wie wilde Tiere. Seine Augen verdrehten sich, seine Hände zitterten, er sabberte aus dem Mundwinkel, als hätte er einen epileptischen Anfall. Als Rüdiger zu ihm eilen wollte, wurde er von einer elektrischen Druckwelle erbarmungslos zurückgeschleudert und landete im Meißner Porzellan, das den Kaffeetisch schmückte. Peter bebte, er schrie, er knurrte und kotzte. Sein Kopf blähte sich auf, bis er die doppelte Größe erreicht hatte – und sein ganzer Körper platzte.
Rüdiger und die beiden von Peter mitgebrachten Gangster sahen sich entgeistert an. Rüdiger riss die Augen auf, die Gangster zuckten wie wild mit den Schultern. Einer stammelte: „So…sorry.“ Aber er konnte ja auch nichts dafür.
Schluchzend fegte Rüdiger mit Hilfe der beiden Gangster die Überreste von Peter mit dem Kehrblech weg. Zum Glück hatte er die Utensilien griffbereit, denn er hatte ab morgen Kehrwoche.
Nachdem alles weggefegt war, gingen die beiden Gangster rückwärts aus der Wohnungstür und verbeugten sich mehrmals dabei. Rüdiger gab ihnen noch ein Stück selbst gebackenen Marmorkuchen mit auf die Reise. Es war ja ein langer Weg nach El Salvador.
Gundolf Bresenz meldet sich zurück mit einem Filetstück der jungen deutschen Literatur – leider das Filet eines knochigen Straßenköters…
Mea Culpa, das lustige Magazin der katholischen Kirche
Zwei Jahre hat Gundolf Bresenz in El Salvador mit der Straßengang Mara Salvatrucha verbracht, um für diese Geschichte zu recherchieren. In der Zeit hätte er auch Däumchen drehen können.
DABIQ