Führergeburtstag 1937
von Holger H. Hallstein
Am siebenten April des Jahres 1937 fuhr Reichskanzler Adolf Hitler mit seinem schick frisierten Moped auf der Reichsautobahn Nr. 16 ins Grüne und freute sich schon arg auf seinen anstehenden Geburtstag. Zwei Tage vorher waren feine Briefmarken mit seinem Konterfei erschienen, die er selbst gestaltet hatte. Ein wenig streng schaute er dort nach rechts in die Zukunft, aber heroisch sah es schon aus. Er war gleich zum Postschalter gerannt, als sie ausgeliefert wurde, und die Beamtin hatte ihn schon atemlos begrüßt, solch eine Wirkung hatte das Markenset auf sie. Die Grafikabteilung der Reichspost hatte ganze Arbeit geleistet und seine vortreffliche Rohvorlage im nationalen Sinne verfeinert und retuschiert. Er war gut getroffen. Auf dem Block stand dazu jetzt sein schön ausgedachter Spruch: „Wer ein Volk retten will, kann nur heroisch denken“. Er musste schmunzeln. Erst hatte er schreiben wollen: „Wer einen Frosch retten will, kann nur wie ein Storch denken“. Dagegen hatte der Reichspropagandaminister allerdings sein entschiedenes Veto eingelegt. Auch die Herzchen aus dem ersten Entwurf musste er schweren Herzens drangeben. Er wollte unbedingt irgendwas mit Gefühl machen, wie schrieb er schon in seinem viel beachteten Frühwerk: „Wer die breite Masse gewinnen will, muß den Schlüssel kennen, der das Tor zu ihrem Herzen öffnet“. Hatte er schamlos aus den Memoiren eines buddhistischen Mönchs aus dem Chiemgau geklaut. Aber der blöde Goebbels hielt das für eine schlechte Idee. Also ein bisschen mehr Volk rein und Untergangs-Fatalismus raus, und man durfte dem Volk auch nicht zu viel zum Grübeln geben, sonst würde es verwirrt sein und wieder anfangen, die Kommunisten zu wählen.
Eigentlich durfte er gar kein Moped fahren, denn er war im März bereits zum siebenten Mal durch die Führerscheinprüfung gerasselt. Aber das war das gute an der Diktatur: er hatte die Schnauze voll, und kurzerhand ein „Gesetz zur Ermächtigung des Führers zum Führen eines Mopeds ohne Führerschein“ selbst unterschrieben und ordentlich in einem Leitz-Ordner abgeheftet. Da konnte ihm jetzt keiner was! Die Schupos sollten ihn nur anhalten, die würden schon sehen, was sie davon hätten. Er hatte vorsorglich noch eine Abschrift des Gesetzes von seiner Sekretärin Traudl anfertigen lassen und sie fein säuberlich in seiner Gürteltasche verstaut. Endlich Frühling, endlich Freiheit!
Der Führer sauste nur so über den Asphalt. Links und rechts wischte der grüne Tann verschwommen in seinen Augenwinkeln dahin. Geschwind fegte er kleine graue dahinkriechende Volkswagen von der Straße, als würde er einen lästigen Käfer verscheuchen. Juchei, war das eine Gaudi! Der Tacho zeigte 80, aber er fuhr mindestens 100 Sachen, denn er hatte das Moped ja frisiert. Nürnberg lag schon 20 Kilometer hinter ihm, da packte ihn langsam der Hunger, und so fuhr er eine Autobahnraststätte an. Verheißungsvoll leuchtete eine blaue Schrift am Wegesrand und lockte ihn mit dem Versprechen auf eine heiße Bockwurst und ein kühles Blondes. Er setzte den Blinker an der zweiten Bake und schon schoss er auf den Parkplatz, der recht leer war. Die modisch geschnittenen Haare wirbelten um seinen kantigen Kopf, als er so an einem Gefahrgut-LKW, einer Familienkutsche und einem Omnibus vorbeiknatterte. Kurz vor dem Eingang, den eine riesige, detailgetreue Bockwurstplastik markierte, zügelte er sein Gefährt und kam vor einem kleinen Pimpf zum Stehen, welchen er leicht touchierte. Dem überraschten Jungen fiel durch den Schreck seine Kugel Waldmeistereis aus der Waffel und kleckerte auf den Bürgersteig. Traurig blickte er auf die im Dreck zerschmelzende Kugel, dann auf den Führer. Der zwinkerte ihm nur zu und gab ihm einen väterlichen Klaps auf die Schulter. „Na, mein Junge, wohl nicht aufgepasst? Immer schön wachsam bleiben! Waldmeister ist doch eh was für Schwächlinge“. Dann stieg er ab, griff in die linke Brusttasche seiner Lederjacke und holte ein Paket Juno-Zigaretten heraus. Er hielt dem Knirps eine davon hin. Dieser schaltete rasch und nahm das Angebot dankbar an. Schon glimmte der Tabak, und beide rauchten still und zufrieden, während sie einen Blick auf den laufenden Verkehr warfen. „Aus dir wird noch was, mein Junge“, rief der Führer unvermittelt und drückte seine Kippe mit dem Stiefelabsatz auf dem Asphalt aus. „Heil mein Führer!“ rief der Pimpf mit piepsiger Stimme und salutierte. Zufrieden mit der deutschen Jugend strebte der Führer sogleich zur Tür des Lokals. Aus dem Inneren drang lustige völkische Honkytonkmusik aus einem verstimmten Klavier an sein Ohr. Es wurde Zeit für einen Happs!
Drei Stunden später.
Zornig röhrte der frisierte Motor durchs Voralpenland. Die Fahrtzeit zum Obersalzberg betrug schätzungsweise nur noch eine knappe Stunde. Nachdem die Bockwurst leider aus gewesen war, hatte der Führer ersatzweise eine doppelte Portion Sauerkraut in sich hineingeschaufelt und sich danach auf der Damentoilette erbrochen. So gut der Tag angefangen hatte, er schien sich zum Schlechteren zu wenden. Den Koch hatte er sofort zum Rapport ins KZ Dachau befehligt, der wollte aber nicht. Die darauffolgende Diskussion war nicht zu des Führers Gunsten verlaufen. Als der Schurke ihm auch noch den Deutschen Gruß verweigert und ihm stattdessen ein „Hau ab du Nazi-Sau!“ entgegen geschmettert hatte, hatte er ihm kurzerhand vors Schienbein getreten und war schnurstracks aus der Autobahnraststätte geschritten. So mit ihm umzuspringen, das ging gar nicht! Undankbares Gesindel!
Nun aber kam auch schon die letzte Kurve zum Obersalzberg in Sicht. Sein schönes Obersalzberg! Seit fast zehn Jahren war er immer wieder hierher gekommen, hatte Ruhe gefunden, seine Kräuterlimonade im Wirtshaus getrunken, mit der dicken gemütlichen Bäuerin Leni geschäkert, und heimlich die Schriften von Lenin studiert. Mittlerweile gehörte ihm alles, und auch wenn beim Verkauf der Grundstücke nicht alles ohne Druck zugegangen war, so hatten sich die Bauern jetzt doch in ihr Schicksal gefügt und waren ins Tal emigriert. Wären sie nicht so frech und maßlos gewesen, hätten sie schon ihr Auskommen gehabt. Er zuckte mit den Schultern; ein paar Opfer brauchte eben jedes Volk. Er musste auch auf vieles verzichten. Ein wenig Leid tat ihm die dicke Leni, sie hatte ihm immer Lakritze aus Tirol zugesteckt, und die mochte er doch so gerne. Aber dieser melancholische Gedanke währte nur einen Bruchteil einer Sekunde und störte seine Vorfreude auf das Feriendomizil somit nicht lange.
Da lag es auch schon! Der Berghof tauchte heroisch hinter der letzten Kurve auf. Freudig erregt kläffte seine Freundin Blondi vor der Hütte, und kurz darauf lagen sie sich liebkosend in den Armen. Die herabfallende Sonne färbte die Alpengipfel in einem wagneresken Rosa. Aus dem Haus wehte die Ouvertüre zu Lohengrin. Es war wunderschön.
Am Abend saß der Führer in seinem Ohrensessel und überlegte, wen er alles zu seiner Geburtstagsfeier in zwei Wochen einladen wollte. Es würde ein Dienstag sein, das war natürlich schlecht, denn es war mitten in der Woche. Da konnten sie nicht so lange feiern wie am Freitag. Nichtsdestotrotz, er wollte es nicht verschieben, denn Geburtstage müssen eben gefeiert werden, wie sie fallen. Er blickte auf das weiße Papier vor ihm, nahm den akkurat gespitzten Bleistift zur Hand und begann zu schreiben. „Liebe/r … “, das müsste er später mit Namen füllen, „ich lade dich herzlich zu meinem 48. Geburtstag ein. Bitte bring ein schönes Geschenk mit. Wir schauen nochmal den Olympiafilm und dann gibt’s Kuchen. Herzliche Grüße, dein Wolf“. Unten fügte er noch eine Zeile zum Ankreuzen ein, und bat um Rückantwort. Er las es noch einmal durch, nickte zufrieden, und nahm es dann mit in den Keller, wo er es seiner Sekretärin unter der Tür durchschob. Sie würde ihm 32 Kopien davon anfertigen, und die musste er nur noch unterschreiben. Er vergewisserte sich noch einmal, dass er auch niemanden vergessen hatte; Alfried natürlich (der auch im Olympia-Film vorkam als schnittiger Segler und den er gerade erst zum Wehrwirtschaftsführer ernannt hatte), Martin, Walther, Rudolf, Joseph (da müsste er aber mit A.H. unterschreiben, so dicke waren sie nicht), und natürlich Eva – auch wenn Blondi immer so eifersüchtig tat, wenn sie im Haus umherschlich. Die Sache war geritzt!
Endlich war der große Tag gekommen! Der Führer schlug die Augen auf, die Sonne blinzelte zum ihm durch den Spitzenvorhang herein. Mit einem kräftigen Satz sprang er aus dem Bett, wirbelte seine Schlafmütze vom Kopf und schlüpfte in die braunen Pantoffeln. Er musste noch den Kuchen backen für seine Gäste!
Die Kuckucksuhr schlug vier. Seit einer geschlagenen Stunde wartete
der Hausherr auf seine Gäste, aber kein einziger war gekommen. Dabei
hatte er sich doch solche Mühe gegeben! Hatte er den Ort vergessen
anzugeben oder verwechselt? Vielleicht saßen sie alle in
Berlin in der Reichskanzlei und warteten auf ihn? Oder in seinem
Lieblingslokal im Lehel? Blondi saß ihm gegenüber am anderen Ende der
langen Tafel und sagte kein Wort. Eine peinliche Stille lag über
allem. Die Pendel der Kuckucksuhr schwangen leise klackernd hin und
her. Er knackte mit den Fingernöcheln. Dann stand er auf und schritt
langsam auf dem Läufer zur Mitte der Tafel, wo die
Geburtstagstorte stand. Grimmig blickte er sie an. Er hatte eine
verdammte Stunde gebraucht, das
rote Hakenkreuz in Zuckerguss anzubringen, nachdem er die ersten
beiden Versuche eines Alpenpanoramas im Mülleimer entsorgt hatte.
Seine Hand zitterte, als er langsam das Messer zur Hand nahm. Dies war ein entscheidender Moment seines
Lebens, und er kam plötzlicher, als er gehofft hatte. Ohne
Vorbereitung, blitzartig, aus heiterem Himmel. Er stand am Scheideweg und musste
sich nun für einen von drei
Pfaden des Heldentums entscheiden:
Seppuku, Eremitentum oder Krieg?
Wäre ich noch am Leben, wäre meine Meinung über diese tolle spannende Geschichte: Meisterlich! Der Junge kann was.
Joseph Goebbels