Fett
von Justin-Rolf Colt
Klar, Heinz wusste auch vorher schon, wie sich Einsamkeit anfühlt. Nicht
diese allumfassende, ewige Einsamkeit die ihn heute umgab, aber sie war
ihm nicht fremd. Das hätte die Menschen damals vermutlich ziemlich
überrascht, denn Heinz war sehr beliebt und Heinz war nie allein. Er
führte damals einen kleinen Kiosk in Bonn, direkt am Rhein, in dem er
blasse Pommes und knorpelige Wurst zu horrenden Preise an seine Gäste
verkaufte. Die Menschen mochten ihn trotzdem. Er war aufgeschlossen und
freundlich, jederzeit für einen Plausch mit der Kundschaft bereit – das
gehörte zum Geschäft. Die urlaubsreife Lage seines kleinen Imbiss tat
ihr Übriges.
Nach dem Frittieren warteten zu Hause seine Frau Gabi, die Söhne Karl
und Karl und die kleine Pommes.
Heinz frittierte tagein tagaus, von der Früh bis spät in den Abend. Alles, was seine Kundschaft begehrte, fand seinen Weg in das siedende Fett. Nach Feierabend experimentierte er und frittierte auch Ungefragtes. Die Rheinaue bot: Enten, Gänse, Krähen, Graureiher, Kaninchen, Eichhörnchen und Schildkröten. Er dachte über Katzen nach, entschied sich dann aber dagegen.
Doch wenn man genauer durch die glänzende Fettschicht seines Alltags
schaute, dann fand man darunter einen anderen Heinz.
Wenn er abends den Imbiss abschloss und sich im Dämmerlicht durch die
Straßen der Stadt bewegte, dann spürte er deutlich, wie ihm seine
Mitmenschen aus dem Weg gingen. Seine gelblich glänzende Haut, der
schwere Duft nach altem Frittierfett und seine knusprigen Finger
irritierten die Leute, ja, jagten ihnen sogar Angst ein.
Gabi empfing ihn jede Nacht mit einem vorwurfsvoll resigniertem Blick.
Die Ärzte hatten Heinz wegen der ungeheuren Hitze der Fritteusen ein
kinderloses Leben prophezeit. Ein Opfer, das Heinz zu bringen bereit war
und das ihm das Herz von Gabi, die kein Herz für Kinder hatte, öffnete.
Die Ärzte irrten und Gabis Herz schloss sich wieder.
Keiner der Karls wollte in seine Fußstapfen treten, um den Kiosk in der
Familie zu halten. Beide beschäftigten sich lieber intensiv mit
Ballerspielen und wollten später „irgendwas mit Pornos“ machen. Seine
Tochter sprach seit ihrem zweiten Geburtstag kein Wort mehr mit ihm. Sie
war Vegetarierin.
Als in den vergangenen Tagen also die gesamte Menschheit von einem Virus ausgerottet wurde, änderte sich an Heinz' Gemütszustand vorerst nicht viel. Er fühlte sich ein bisschen leichter. Das tief sitzende, über die Jahre in seine Haut, in sein Wesen imprägnierte Fett hatte ihn vor dem Virus bewahrt. Da niemand da war um aufzupassen, gingen alle Städte in Flammen auf und Heinz rettete sich in den Wald. Erwartungsvoll schaute er seinem bevorstehenden Hungertod entgegen – doch Heinz verhungerte nicht. Er starb auch nicht an Unterkühlung oder wurde von Wölfen gefressen. Heinz' Immunität gegen das Virus war nicht das einzige Wunder, das ihm ein Leben im Dunst der Fritteusen geschenkt hatte.
Bereits nach wenigen Tagen allein in der Wildnis stellte Heinz fest,
dass Regenwasser weder in seine Haut noch in sein Haar eindringen
konnte. Er ging auch nicht im Wasser unter. Lachend lief er auf dem
Rhein hin und her bis ihm nach wenigen Sekunden die Puste ausging. Einen
Moment lang sah es so aus als müsse er ein bisschen kotzen, aber es
passierte nichts.
Holz musste er nur kurz festhalten, um es schneller brennbar zu machen.
Tiere (Enten, Gänse, Krähen, Graureiher, Kaninchen, Eichhörnchen und
Schildkröten) wurden vom seinem ranzigen Duft angelockt und betört und
ließen sich so kinderleicht erlegen. Wenn es dunkel wurde, entzündete er
eine gezwirbelte Haarsträhne auf seinem Kopf und wurde zur Kerze.
Was die Wölfe betraf, so hatte Heinz einfach Glück. Er stolperte recht
früh über ein halb vergrabenes G36 – das Standardgewehr der Bundeswehr,
gefertigt von der traditionsreichen Firma Heckler und Koch. Es war ein
gutes Gewehr. Verarbeitet mit deutscher Präzision, ausgestattet mit
einem modernem, doch zeitlosen Design und einer Zuverlässigkeit, die
trotz gegensätzlicher Medienberichte für Heinz nie in Frage stand.
Obwohl er das Gewehr ausschließlich im vollautomatischen Modus nutzte
und oft mehrere Magazine hintereinander Richtung Wolf, Bär, Katze und
andere feindliche Kombattanten abfeuerte, konnten weder er noch sie,
nennenswerte Defizite hinsichtlich der Präzision bei einer Erhitzung
der Waffe feststellen.
So ausgerüstet entschied sich Heinz, das Meer aufzusuchen. Er hatte Gutes
darüber gehört.
Am Ende einer langen, schmierigen Reise, gesäumt von Tierkadavern und Patronenhülsen, kam Heinz, gekleidet in blutige Fellfetzen, an einem Strand in Südfrankreich an. Neben vielen verbrannten Hotels bot dieser, zu Heinz' freudiger Überraschung, zwei blasshäutige Nordirinnen auf einem großen Badetuch, deren in Sonnencreme balsamierte Körper ebenfalls vom Virus verschont geblieben waren. „Hello, I’m Heinz“, sagte Heinz. „Hello Heinz“, antworteten die Frauen simultan und mit schwerem Akzent. Obwohl sie sich alle nicht sehr attraktiv fanden, hatten sie sehr viel Sex miteinander. Als Heinz zwei Monate später einem Herzinfarkt erlag, war das OK für ihn.
Diese Geschichte hat mir gut gefallen
Norbert Scheuch (H&K)