Tot sein
von Wally Schmitt
So hatte er sich das nicht vorgestellt. Zwar hatte er sich nicht absichtlich umgebracht, eher aus einer dämlichen Unachtsamkeit heraus, im Suff, es waren wohl Wasser und Strom im Spiel – so genau wusste Konni es nicht mehr. Dennoch war ihm dieser Zustand immer als etwas Entspanntes, ja Erlöstes vorgeschwebt. Die herbe Enttäuschung: Er sah sich auch weiterhin kontinuierlich ansteigenden Reizniveaus ausgesetzt, durch welche die zarten Saiten seines Gemüts in verzerrt brüllende Schwingungen versetzt wurden. Es war nicht zu ertragen, aber wo sollte er jetzt noch hin? Seine Existenz post mortum setzte konsequent fort, was er bis dato hatte ertragen müssen.
Dass ihm auch jetzt noch das endgültige Erlöschen verweigert blieb, hatte – wie üblich – einzig und allein seine Mutter zu verschulden. Mit Grauen hatte Konni beobachten müssen, wie sie in ergreifend eingebildeter Lähmung über den Verlust ihres Erst- und Letztgeborenen sich weigerte, auch nur eine Einzige seiner entweder versifften oder nagelneuen Habseligkeiten zu entsorgen. Fast zwei Jahre war es nun her, dass sie seine überaus hell und freundlich gelegene Behausung zum letzten Mal betreten hatte. Die Schuld hatte sich tief in ihre Mundwinkel gegraben, mit zornesdunklen Augen hatte sie die einst von ihr gekaufte kleine Wohnung abgeschritten, um sie zuletzt mit einer barschen Handbewegung von außen zu verschließen. Und Konni saß fest.
Alle ehemals dem Eskapismus dienenden Objekte verwehrten ihm von nun an den Zugang – Fernseher, Minibar, Gleitmittel hatten sich trotzig von seinem körperlosen Zustand abgewandt. Ihm blieb nichts anderes übrig als bloß zu existieren. Er hätte brennen wollen, so wie die Pinguine es ihm in der Grundschule prophezeit hatten, doch stattdessen quälte ihn das nicht enden wollende Nichts. Und so geisterte Konni, einsamer als je zuvor, zwischen den wie eh und je kahlen Wänden hin und her. Dort, wo bei anderen Menschen Photographien, Eintritts- und Postkarten Lebendigkeit dokumentierten, klebte hier nur eine schmierige Schicht Zigarettengilb. In der Küche erinnerten stapelweise Pizzaschachteln daran, dass seinem Körper dereinst Energie hatte zugeführt werden müssen. Die letzte sinnliche Erinnerung, die sich noch hielt, war der penetrante Geschmack von Thunfisch und Käse.
Schnell erwies sich der Plan, die neue Daseinsform stumpf zu überdauern oder stur wegzuignorieren als undurchführbar. Mangels sensorischer Erlebnisse bestand Konni nur noch aus emotionalem Output, der kein Gehenüber fand. Warum zur Hölle plötzlich all das fühlen, was er jahrzehntelang erfolgreich in sich und vor sich selbst vergraben hatte? Konni litt. Die Zeit verstrich oder stand still, das war nicht ganz klar.
Eine vage Aufregung riss Konni jäh aus seiner sich selbst umkreisenden Fühligkeit. Es war jemand in der Wohnung. Jemand Fremdes, natürlich, so oder so hatte es ausschließlich Fremde in Konnis Leben gegeben, daran war also nichts Neues. Aufgescheucht mäanderte er auf den Quell der Unruhe zu und entdeckte zu seinem Entsetzen einen Handwerker. Es sollte nicht der letzte bleiben.
Es folgten Wochen der Zimmer-, Maler- und Elektrikerarbeiten, und Konni unterhielt sich gegen seinen Willen prächtig über die Beseitigung seiner Lebenstrümmer. Er spürte den Ekel derer, die seinen Unrat beseitigen mussten. Er spürte die Müdigkeit desjenigen, der zu Spottpreisen im Akkord die Wände weißschlampte. Er spürte auch den Ehrgeiz und die Gier des neuen Eigentümers, der mit Sicherheit irgendein Opfer der unzureichenden Stadtentwicklung finden und ausbeuten würde.
Konni wurde regelrecht euphorisch, denn all diese Maßnahmen konnten letztendlich doch nur dazu führen, dass die letzten klebrigen Spinnfäden, die ihn hier festhielten, gekappt wurden. Nichts würde ihn mehr hier halten, vorbei dieses elendige ewige Bewusstsein seiner Selbst. Sobald seine dinglichen Hinterlassenschaften erstmal auf diversen Müllhalden vor sich hinrotten würden, könnte sein Ich sich endlich für immer schlafen legen, dessen war er sich sicher.
Umso mehr entsetzte sich Konni, als die Handwerkerbesuche unvermittelt endeten. Man hielt die Behausung nun offenbar für bereinigt. Konnis Verankerung befand sich in der Küche. Hier, wo er einst gegen Mittag Discounter-Cola und Zigaretten zu frühstücken gepflegt hatte, wo er nachmittags lustlos kalte Ravioli direkt aus der Dose in sich hineingegabelt und nur ein einziges Mal ein Rührei zuzubereiten versucht hatte, hier standen all die teuren Küchengeräte, von Konni nahezu unberührt, herum. Am meisten quälte ihn die vorwurfsvolle Waschmaschine, die mühelos einer Großfamilie zur Sauberkeit gereichen konnte. Auf die Spülmaschine war seine Mutter besonders stolz gewesen, offenbar wurde bis hin zum letzten Obstmesserchen abgewogen, um Wasser und Reinigungsmittel schonendst und effektivst zu dosieren. Konni hätte nichts sehnlicher gewünscht, als dass dieses zierliche Ungetüm das gesamte Erdentum in einer gigantischen Welle aus Dreckwasser und Klarspüler beseitigt hätte.
Konni besah sich die wenigen Quadratmeter rostrot-weiß gekachelten Küchenbodens. Wer auch immer in diese verdammte Wohnung einziehen würde, brauchte nur seinen Kram in Konnis Schränke zu stellen. Neben das noch vorhandene Sortiment aus verblichenen werbebedruckten Tassen und angelaufenem Alu-Plastik-Besteck. Was sollte nun aus ihm werden?
Sie waren zu dritt. Sie, ein dürres Persönchen mit einem energetischen Potential, welches Konnis ehemaliges Nervenerregungsniveau um gefühlt das Fünffache überstieg, schuf sich in Konnis Refugium mithilfe ihrer beiden Kleinkinder eine hyperaktiv pulsierende Schaffensoase. Sie ging arbeiten, sie erzog, sie haushaltete. Es dauerte nicht lange und der Balkon, dereinst mit einem maroden Stuhl und Plastikaschenbecher bestückt, sprengte als grüne Hölle die ihm vorgesehenen Kanten und Ecken. In der Wohnung schrien Farben, Gerüche, Beziehungen um seine Aufmerksamkeit, die sich zu seiner großen Überraschung muskelartig aufbaute. Hellwach und unbemerkt nahm Konni teil.
Als ihm klar wurde, welchen Verlust seine semisuizidale Dummheit nach sich zog, als er sich in dem Durcheinander seiner drei Untermieter eingerichtet hatte, als er nun zu verstehen begann, dass die ihm zugedachten Jahrzehnte hätten angefüllt sein können mit Dasein und Erleben – da geschah es. Zuerst waren es nur der ein oder andere seiner Teller, welchen die kleinen Rotzlöffel zu Bruch brachten. Dann gab die Waschmaschine ihren Geist auf. Konnis Toaster hauchte mit einer Funkenfontäne seine Funktionstüchtigkeit aus, als jemand versuchte, ein verkantetes Brotstück mit einer Gabel herauszuoperieren. Konni spürte, wie er verblasste. Schließlich wurde seine Singlespülmaschine aufgrund hohen Besucheraufkommens durch ein Gerät doppelten Fassungsvolumens ersetzt. Wegen allzugroßer Hässlichkeit tauschte man das Besteckset aus. Konni starb. Als das letzte Stück aus Konnis Erbmasse, ein dotterfarbener Frischhalteclip, auf dem Ceranfeld schmolz, verdampften auch Konnis Überreste, geräuschlos, unsichtbar, so wie er einst unbemerkt existiert hatte.