Sternschnuppen-Dämmerung
von Fjóðórur Rágnárson
Ich lag auf dem abgeschrubbten Rücken einer alten Gazelle und starrte
in den safranfarbenen Himmel. Eine Sternschnuppe bewegte sich langsam
auf mich zu. In der Ferne hörte ich das Kriegsgeschrei eines ungarisch
dahin brabbelnden Stammes versprengter Wikinger, unterlegt vom
aufdringlichen Geklimper eines verstimmten alten Klaviers. Die
Sternschnuppe kam näher und näher. Ich erkannte den Schemen eines
Ochsenfrosches im Gegenlicht. Bullig saß er auf der Sternschnuppe und
lenkte sie stoisch in meine Richtung. Langsam machte ich mir Sorgen.
Träge blinzelte ich nach links und sah aus meinem halb geöffneten
Schlupflid den kleinen Mexikaner auf seiner eigenen Gazelle in den
Himmel starren. „Ay, dios mío!“, kommentierte er eher trocken als
erstaunt, als er meinen Blick auf sich ruhen fühlte. Ich verlagerte
mein Gewicht seitwärts und rutschte auf den staubigen Boden. Aus
meinem abgewetzten Seesack kramte ich eine ausgelaufene
Nickel-Cadmium-Batterie hervor und saugte daran. Das Oxidhydroxid tat
mir gut. Eine wohlige Wärme breitete sich in meiner Nierengegend aus.
So gestärkt, überlegte ich, was zu tun sei. Mehrere Szenarien
breiteten sich vor mir aus, drei davon schienen am wahrscheinlichsten:
die Sternschnuppe könnte in einer Supernova direkt über unseren
Köpfen explodieren, ein schwarzes Loch erzeugen und uns in Antimaterie
aufspalten. Oder der Ochsenfrosch würde, sobald er nahe genug an uns
herangekommen wäre, plötzlich sein Maul öffnen und eine riesige
rosafarbene Zunge würde schnalzend unsere Köpfe vom Körper trennen,
ehe wir „B“ sagen konnten. Oder die Sternschnuppe würde sich in
eine riesige Amöbe verwandeln, die uns mit einem Happs verschlucken
würde, ohne dass wir es merken würden.
Am deprimierendsten bei diesen Gedankenspielen erschien mir, dass jedes
dieser Szenarien mit Tod verbunden war. Immerhin wollte ich die geringe
Chance nicht ausschließen, dass es doch noch ein weiteres Szenario
geben würde, welches uns am Leben lassen würde. Ich wusste, dies war zutiefst unwahrscheinlich.
„Dios mío!“, ächzte der Mexikaner, und ich ging vermutlich nicht
fehl in der Annahme, dass auch er diese Szenarien in seinem Kopf durchspielte.
Mein Leben zischte an mir vorüber. Ich sah Erdbeermarmelade im Haar
meiner Schwester, einen zornentbrannten Zebrastreifen in heißem Disput
mit einer pazifistischen Transsexuellen aus Idaho. Speckstreifen und
grüne Bohnen beim Poledancing in einer Eckkneipe, wo die Molle noch
eine Molle war. Kot auf dem Flügel, der mir das Klavierspiel
beigebracht hatte. Einen Schlips, abgeschnitten an Weiberfastnacht 1976
auf dem Rathausplatz in Hannoversch Münden. Meine damalige Geliebte
auf dem Weg zum Zahnarzt, nachdem ich ihr mit dem Bagger alle vier
Weisheitszähne zu ziehen versucht hatte, vergebens. Alte Schulfreunde
mit pausbäckigem Gesicht, einen roten Apfel in der einen Hand und
atomwaffenfähiges Uran in der anderen, bereit zum Tausch mit einem
Kakao in der großen Pause. Zerkochtes Gemüse in den Händen hilfloser
Paviane, die nichts damit anzufangen wussten und später Hungers
starben. Es war meine Schuld.
Mein Leben rann an meinem inneren Auge vorbei wie ein humpelnder Elefant. Grobschlächtige Massenszenen wechselten sich rasch ab mit filigran geschnitzten Miniaturen. Ich saß auf dem Rücken meiner Mutter und leckte an einer Stange Wassereis mit Stachelbeeraroma. In der Küche der griechischen Rossbraterei zerhackte ich Pferdeköpfe zu Frikassee und hörte Skrjabin-Sonaten aus einem scheppernden Radio. Fünfundfünfzig Zwerge hatten mich an eine überdimensionierte gelbe Rübe gefesselt und
piesackten mich, indem sie mir im Vorüberlaufen eine Kostprobe ihres
übelriechenden Mundgeruchs gaben – ein Gemisch aus Zwiebel,
Kohlrabisuppe und vermodertem Flieder mit einem Hauch von
synthetischem Lindenblütenhonig.
Ich pulte Dreckpfropfen aus den Ohren
eines verlotterten Straßenköters und schnippste sie in den träge
dahinfließenden Fluss. Ein slowakisches Mädchen mit
Ringelblumensalbenflecken auf dem Kinn beugte sich zu mir herunter und
küsste mich sanft auf die Nasenspitze. Ein Schweißtropfen rann meine
Brust herunter, bahnte sich mühsam den Weg durch meine Brustbehaarung
und sammelte sich in meinem Bauchnabel, aus dem sich ein unendlicher
Strom aus Sirup ergoß. Lachse schwammen stromaufwärts dagegen an und
hüpften dann und wann aus Sirup, durchbrachen die Oberfläche in
verspielter Leichtigkeit, als sei es nur Wasser.
Meine Hirnzellen
erstarben, eine nach der anderen. Das Wohnmobil, welches ich von
meinem ersparten Söldnerlohn aus der Blauhelmmission im Busch von
Neufundland gekauft hatte, tuckerte durch die unbewohnte Einöde der
ostsibirischen Tundra. Ich hatte Perlen aus Dosenfisch geflochten und
verkaufte sie an fettleibige Touristen am Strand von Luskentyre, weit
draußen auf den Äußeren Hebriden. Kalt, aber schmerzlos durchschnitt
das Skalpell meine Bauchdecke. Ich reckte die Trophäe in die Luft und
das Stadion jubelte mir zu. Am Zenit meiner Karriere zog ich ein
letztes Mal an der Pfeife und hauchte kurz darauf zufrieden mein Leben
aus.
Ein Zebra nahm mich an die Hand und führte mich über die Straße. Es
hatte ein Henkerbeil im linken Huf, welches leise über den Asphalt
kratzte, wie eine Gabel, die man über einen blechernen Teller
zieht. Als wir die andere Seite erreicht hatten, setzte es sich auf
alle Hinterhufe und sah mich lange schweigend an. Mit einem traurigen
Blick schüttelte es langsam den Kopf, wandte sich um und ließ mich
alleine zurück. Eine Limousine in mattgrün rollte heran.
Leise hielt
sie am Straßenrand, kaum zehn Schritt von mir entfernt. Ich stand
teilnahmslos an der Leitplanke, an welcher das Zebra mich hinterlassen
hatte, und verfolgte das Geschehen. Die Tür des Fahrers ging auf,
ein kleinwüchsiger Asiate sprang heraus, ging um die Motorhaube herum
und öffnete die hintere Tür. Zwei feine Schuhe aus italienischer
Fabrikation setzten sich elegant auf den Boden und ein korpulenter
Mann fädelte sich erstaunlich behände aus dem Auto. Er trug eine
Sonnenbrille, einen Zylinder, einen perfekt sitzenden Anzug, eine
silberne Krawatte und ein kleines Täfelchen.
Interessiert blickte er
sich um, fingerte dann ein Stückchen Kreide aus seiner Brusttasche und
fing an, eine Formel auf dem Täfelchen zu notieren. Ich konnte es
auf die Entfernung nicht genau erkennen, doch meinte ich, mit einiger
Sicherheit sagen zu können, dass es sich um eine Formel handelte. Dann
reckte der Mann seine Nase in die Luft, holte einen Schwamm aus der
Hosentasche, spuckte einmal darauf und begann, seine Formel wieder
wegzuwischen, nein, nur einen Teil davon. Er korrigierte etwas,
besah es sich noch einmal und nickte dann zufrieden. Dann übergab er
das Täfelchen seinem Chauffeur, wedelte ein wenig Kreidestaub von
seinem Anzug und hievte sich wieder in das Auto.
Der Asiate verpackte das Täfelchen sorgsam in altes Zeitungspapier,
blickte sich um, und verstaute es im Kofferraum. Dann sprang er ins
Auto, startete den Motor, und gemächlich glitt die Limousine von
dannen, ohne von mir auch nur die geringste Notiz zu nehmen. Ich
blickte ihnen hinterher und wunderte mich über das seltsame Verhalten
des Fahrgastes.