Die Mitfahrerin
von Cem Raibach
1
„Soviel Zeit muss sein“, dachte Lukas, schloss die Haustür noch einmal
auf, sprintete ins Bad und öffnete seinen Hosenstall. Ein, zwei
Spritzer Calvin Klein auf jedes Ei – Hose wieder zu. Wer weiß, was
heute noch passieren würde. So, jetzt aber wirklich los.
In letzter Sekunde erreichte er seine U-Bahn. Kurz durchatmen. Ein
Blick aufs Handy, eine Nachricht von Svenja: „Schon unterwegs? Freu
mich auf dich;)“
Vor zwei Wochen hatte Lukas Svenja im Internet kennengelernt. Sie hatten mehrmals miteinander geschrieben und zwei mal telefoniert. Jetzt war er auf dem Weg zu ihr nach Hamburg. Er war sich zwar nicht ganz sicher, ob er sie so besonders attraktiv fand – aber ein guter Bumms, das sollte doch drin sein, fand er.
Er öffnete die App der Mitfahrzentrale und vergewisserte sich noch einmal, dass er auch zum richtigen Abfahrtsort unterwegs war. 15 Uhr, Kottbusser Tor, Robert, blauer Golf. Alles paletti.
Unten wartete Robert schon neben der Fahrertür seines Wagens.
„Lukas?“, fragte er und streckte ihm die Hand entgegen.
„Hallo“, sagte Lukas, „du fährst nach Hamburg?“
„So sieht’s aus“, antwortete Robert, nahm Lukas die Reisetasche ab und verstaute sie im Kofferraum.
„Dann kann’s ja losgehen“, sagte er, etwas zu laut. Irgendwie schien er erleichtert, dass Lukas da war.
Robert öffnete ihm die Tür hinten links und Lukas stieg ein. Außer den beiden gab es noch zwei weitere Mitfahrer: Rechts hinten saß eine etwas nervös lächelnde Brünette, wahrscheinlich Studentin. Lukas tippte auf Chemie.
Vorne auf dem Beifahrersitz hatte es sich eine etwa vierzigjährige, dicke und ungepflegte Frau mit fettigen Haaren bequem gemacht, die aus dem Fenster starrte, als Lukas sich setzte und freundlich grüßte. Die Stimmung im Auto schien seltsam angespannt.
Robert fuhr los und ließ den üblichen Mitfahrgelegenheits-Fahrer-Sermon ab: „Wenn irgendwas ist, wenn ihr ‘ne Pinkelpause braucht, wenn euch zu warm oder zu kalt ist: einfach bescheid sagen. Oder wenn ihr irgendwas hören wollt, ich hab hier auch USB-Anschluss, alles kein Problem. Nur kein Techno, bitte“, sagte er und lachte.
Kaum hatte er seinen Satz beendet, kam von rechts vorne ein leises, aber deutlich verständliches und vor aggressivem Hass triefendes: „Ach, halt doch einfach die Fresse…“
Das war der Moment, in dem Robert hätte rechts ran fahren und die Mitfahrerin auf die Straße setzen sollen. Stattdessen bemühte er sich, den Angriff als Spaß zu interpretieren. Eine folgenschwere Fehlinterpretation, wie sich herausstellen sollte. Robert schien mit der Situation überfordert. Durchaus verständlich, wie Lukas fand.
„Aber, aber… ein bisschen mehr Höflichkeit, wenn ich bitten darf!“, antwortete er viel zu spät und lachte gekünstelt.
Die Mitfahrerin starrte weiter aus dem Fenster und war jetzt erstmal still. Lukas schaute zur Chemie-Studentin herüber, aber die versuchte ebenfalls, die Situation einfach wegzuignorieren.
Als der Wagen an einer Kreuzung kurz vor dem Ortsausgang noch einmal zum stehen kam, überlegte Lukas einen Moment, ob er aussteigen sollte. Er hätte nur sagen müssen, dass er sein Portmonee vergessen hätte, wäre einfach abgehauen und mit dem nächsten Zug nach Hamburg gefahren. Die Ampel zeigte gelb, grün, zu spät.
2
Kurz nachdem der blaue Golf die Auffahrt zur A10 erreicht hatte,
fragte die Mitfahrerin plötzlich aufgedreht, fast hysterisch: „Will
wer ‘nen Kaugummi? Ich hätte Bock auf ‘n Kaugummi!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, kramte die Frau wie wild in ihrer
riesigen schwarzen Kunstleder-Handtasche herum. Ein skurriler Anblick,
der Lukas fast zum Lachen brachte. Doch kurz bevor die Mitfahrerin
eine angebrochene Packung Airwaves hervorzog, sah Lukas etwas anderes
in ihrer Tasche aufblitzen, das ihm das Lachen gleich wieder vergehen
ließ: den Lauf einer großkalibrigen Pistole. Lukas blieb das Herz für
einen Moment stehen. Robert und die Chemie-Studentin hatten nichts
mitbekommen. Sie lehnten nur dankend das Kaugummi-Angebot ab.
„Scheiße“, dachte Lukas. Ihm wurde leicht flau, als sich die Mitfahrerin zu ihm drehte und ihm die Kaugummi-Packung hinhielt. Sie hatte ein breites Grinsen aufgesetzt: jetzt erkannte er, dass sie golden glänzende Grillz im Mund trug. Lukas sah nun auch zum ersten mal die auffälligen Tätowierungen auf ihrer rechten Gesichtshälfte: unter dem Auge zwei Tränen und in der Mitte der Wange eine große Eiswaffel. Wie der Rapper Gucci Mane. Allerdings hatte die Mitfahrerin nicht nur drei Kugeln Eis auf ihre Backe tätowiert, sondern gleich vier. Au Backe. Lukas schaute sie wie vom Blitz getroffen an.
„Kaugummi?“, fragte ihn die Frau noch einmal.
„Nein, nein danke“, antwortete Lukas. Seine Gedanken rasten, er spürte sein Herz schlagen. Er musste aus diesem Auto raus.
„Äh, Robert“, wendete er sich mit gespielter Gelassenheit an den Fahrer, „könnten wir die Nächste mal kurz rausfahren?“
Doch bevor Robert antworten konnte, schrie die Mitfahrerin wie am Spieß:
„Waaaaas!? Musst du schon pissen? Du dumme Sau!“
Robert versuchte wieder zu beschwichtigen: „Naja, wir fahren noch ein bisschen, OK? Ich halt’ dann später mal.“
Lukas überlegte fieberhaft, wie er Robert ein Zeichen geben sollte. Endlich kam ihm ein Einfall. Er hatte ja Roberts Nummer von der Mitfahrgelegenheit. Beiläufig nahm er sein Handy heraus und schrieb Robert eine Nachricht:
„Die Verrückte auf dem Beifahrersitz hat ‘ne Pistole. Kein ScheissS, fahr die Nächste raus!“
„Rrrrring!“, machte es keine Sekunde später und Robert nahm sein Handy in die Hand. Er schaute kurz auf das Display… und reichte es dann Lukas nach hinten.
„Lukas, kannst du bitte mal die SMS vorlesen. Ich mach das nicht beim Auto fahren“, sagte Robert.
Das konnte jetzt nicht wahr sein. Scheiße. Echt üble Scheiße. Lukas nahm das Handy in die Hand, löschte die Nachricht und stellte sich dumm: „Oh, ich glaube, ich hab’s aus versehen gelöscht, sorry“.
Gleich schaltete sich die tätowierte Frau ein: „Warum hast du’s nicht mir gegeben, du Spasti!“, schnauzte sie Robert an und gab ihm eine leichte Schelle. Robert war völlig perplex und reagierte nicht.
Die nächsten zehn Minuten herrschten wieder eisiges Schweigen im Innenraum des Autos. Robert fuhr jetzt deutlich schneller. Aber noch waren es über hundert Kilometer bis nach Hamburg. Lukas Blase begann nun wirklich zu drücken.
Doch da ging es auch schon weiter mit der perfiden Performance: Wieder kramte die Mitfahrerin wie von der Tarantel gestochen in ihrer Tasche. Und jetzt holte sie tatsächlich die Pistole heraus. Robert schaute zu ihr herüber, erblasste und verursachte fast einen Auffahrunfall mit einem LKW. Die Chemie-Studentin schrie kurz und heiser auf.
Die Mitfahrerin fuchtelte mit ihrer Waffe herum, richtete den Lauf nacheinander auf jeden der Insassen und fragte mit irrem Grinsen: „Habt Ihr Bock zu sterben heute… Leute?“
Nein, Lukas hatte keinen Bock zu sterben heute… Verdammt!
Er wollte heute Svenja in Hamburg besuchen. Extra nicht gewichst hatte er, die ganze Woche! Und jetzt so eine Scheiße hier. Er hatte wirklich Angst. Und Wut. Diese Irre. Warum war er nicht ausgestiegen, als er noch die Möglichkeit gehabt hatte?
Die Unruhe war jetzt deutlich zu spüren. Und genau das bereitete der Frau mit der Pistole sichtliche Freude. Sie grunzte fröhlich und zielte mit dem Schießeisen wild durch die Gegend, wobei sie abwechselnd immer ein Auge zudrückte.
Als der Lauf der Waffe auf die Chemie-Studentin gerichtet war, stammelt diese:
„Bitte… bitte, lassen Sie mich am Leben.“ Dabei betonte Sie das „mich“ so, als wäre es OK, Robert und Lukas einfach abzuknallen. Unglaublich, welchen Egoismus Menschen im Angesicht einer großkalibrigen Waffe entwickeln können.
Die Mitfahrerin stöpselte jetzt ungefragt ihren alten Discman an das Radio. Robert redete auf sie ein, wollte sie irgendwie ablenken und Zeit gewinnen: „Ja, ja, machen Sie nur. Machen Sie ruhig was an, was Ihnen gefällt.“
Kurz darauf dröhnte Gucci Manes „Lemonade“ aus den Boxen, so laut, dass sich die Chemie-Studentin die Ohren zuhielt. Die Mitfahrerin rappte erstaunlich präzise mit. Dabei wippte sie im Takt mit dem Colt in ihren Händen.
Plötzlich ein Knall und Lukas war weg.
3
Als Lukas aufwachte, lag er in einem ungemütlichen Krankenhausbett im Zweibettzimmer. Neben ihm wurde gerade eine schweißtreibende Zangengeburt durchgeführt. Hätte er doch mal eine Privatversicherung abschließen sollen. Naja, eigentlich gerade sein kleinstes Problem.
Die Schwester, die gerade diverse OP-Utensilien am Nebenbett von Blut befreite, sah, dass Lukas aufgewacht war und nickte ihm zu. Als die Geburtshilfe abgeschlossen war, kam sie zu ihm rüber.
„Herr Sobretti, schön, dass sie wach sind. Wie geht es Ihnen?“
„Ganz OK“, antwortete Lukas, „nur so Sausen in den Ohren irgendwie.“
„Das kommt vom Morphium“, erklärte die Krankenschwester, „sahst so aus wie’n Kiffer, da nehmen wir standardmäßig die doppelte Dosis. Wir mussten dich ja narkotisieren, um die Beine wieder dran zu nähen.“
Lukas hob die Bettdecke an und schaute entsetzt an sich herunter. Die Schwester lachte: „Späßle gemacht. Das linke Bein war nur bisschen angeknackst. In zwei Wochen ist alles wieder heile heile Gänschen.“
Lukas atmete auf. „Was ist denn überhaupt passiert? Ich kann mich an nix mehr richtig erinnern… Ich weiß nur noch, dass ich in ‘nem Auto saß…“
„Du hattest ‘nen kompletten Blackout?“
Sie schaute ihn ungläubig an.
„Hör mal, du bist Opfer eines Attentats geworden. Ein radikaler Katholik hat sich mit einem Sprengstoffgürtel von einer Autobahnbrücke geworfen. Ein Wunder, dass du so heil davongekommen bist.“
Während die Schwester ihm den Vorfall genauer erklärte, setzen sich die Puzzleteile der Erinnerung nach und nach in Lukas’ Kopf zusammen.
„…das ist alles, was die Polizei uns gesagt hat“, schloss die Krankenschwester.
„Achso, deine beiden Mitfahrer sind übrigens leider über die Wupper gegangen. Da konnten wir wohl echt nix mehr machen hier“, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu und stand auf.
„Ruh dich jetzt erstmal wieder bisschen aus. Wenn du noch Morphi brauchst, sag Bescheid“, lachte sie und wollte gerade das Zimmer verlassen.
Da fiel es Lukas plötzlich wieder ein. Er rief ihr hinterher: „Halt, Schwester! Zwei Tote? Aber was ist mit der tätowierten Frau?“
Die Krankenhausangestellte streckte noch einmal den Kopf durch die Tür: „Zwei Mitfahrer, beide tot“, sagte sie und zeigte mit Zeige- und Ringfinger die zahl zwei. „Null tätowiert!“, lachte sie und verließ den Raum.
Lukas grübelte vor sich hin. Die Bilder der Fahrt hatten sich jetzt fast vollständig in seinem Kopf zusammengesetzt. Aber konnte das Morphium seine Erinnerung derart beeinträchtigt haben, dass er sich im Nachhinein diese abstruse Person in die Geschichte mit hereingedacht hatte? Wie konnte er herausfinden, was wirklich geschehen war?
Er dachte so angestrengt nach, dass sein ohnehin gerade nicht ganz so gut geöltes Hirn fies schmerzte. Da kam ihm die Lösung. Sein Handy, wo war sein Handy? Er schaute auf den Nachttisch. In die Schublade. Da war es! Es war ausgeschaltet worden, wahrscheinlich von der Schwester.
Mit zittrigen Fingern drückte er den Power-Button. Gesendete Nachrichten. Na, komm schon. Wie ein Schlag traf es ihn. Da stand es: „Die Verrückte auf dem Beifahrersitz hat ‘ne Pistole. Kein Scheiß, fahr die Nächste raus!“
Lukas starrte minutenlang in die Luft. Er begann zu zittern. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht. Die tätowierte Frau hatte mit im Auto gesessen. Sie musste den Anschlag überlebt haben und entkommen sein. Er musste die Polizei informieren.
Plötzlich klingelte das Handy in seiner Hand. Wie gebannt schaute er auf das Display: „Nummer unterdrückt“.
Mit schwitzigen Fingern nahm er ab.
„Hallo… hier ist Lukas“, meldete er sich mit trockener Kehle.
Stille am anderen Ende. Plötzlich ein völlig übersteuerter Sound. Trotzdem erkannte er sofort die Stimme des Rappers Gucci Mane: „16 Fever, Cocaina…“ Dann ein krächzendes, völlig überdrehtes Lachen.
Mit einem Schlag füllte sich seine Bettpfanne und er wurde bewusstlos.
Feinsinnig und präzise analysiert Raibach die Tücken der Sharing Economy*, setzt sie gekonnt in Bezug zu einer modernen, zeitgemäßen Form des Christentums und verzichtet auch nicht auf obszöne Worte.*
Stern
…Cem Raibachs Vorstellungen der Arbeitsweise von Krankenhauspersonal sind hanebüchen.
Der Apotheker