Das Grauen von Hopeford
von Wardoh Hipspill Raftclove
Es fällt mir schwer, meine Erinnerungen an den 22. Mai 1921 zu Papier zu bringen. Immer noch plagen mich die Erinnerungen an jenen Frühlingstag so intensiv, dass sie meine Glieder unwillkürlich erschauern und mich in unruhige Träume voll böser Bilder versinken lassen. Nach meinem Aufenthalt im Sanatorium von Marpleham an der Küste Neuenglands sind die Krämpfe zurückgekehrt, welche mich keinen Schlaf mehr finden lassen und mich an den Rand der Verzweiflung treiben. Die schwarzen Meere der Unendlichkeit hätten wir niemals befahren sollen. Die namenlosen Orte, die ich in meinen Träumen immer wieder sehe, greifen nach mir, Tentakeln gleich, saugnapfartig. Dunkle Schatten kaleidoskopischer Kreaturen schmatzen in hypnotischen Strudeln nach dem Verschlingen der Schiffe der unschuldigen Wanderer zwischen den Welten.
Aber ich will es versuchen. Niemand hat meinen Berichten bisher Glauben schenken wollen, und so habe ich die innigste Hoffnung, dass diese Zeilen noch rechtzeitig jemanden erreichen, der sie richtig zu deuten weiß und geeignete Maßnahmen ergreifen wird, um dem Horror ein Ende zu setzen. Der Horror, der Horror!
Der Mai hatte mit einigen wunderbaren Tagen begonnen. Die Luft war warm, eingewanderte Lerchen zwitscherten, Zaunkönige bauten ihre Nester. Ich war zu einigen Studien an der Ostküste und hatte mir ein kleines Zimmer in einem verschlafenen Nest namens Hopeford gemietet, um in Ruhe an meiner Dissertation über die Schmetterlingspopulationen der südamerikanischen Taiga zu arbeiten. Meine Vermieterin war eine verschlossene ältere Lady, insgesamt jedoch nicht unfreundlich. Sie holte mich vom Bahnhof ab, einem in die Jahre gekommenen Holzbau, von dem die weiße Farbe bereits an mehreren Stellen abgeblättert war. Der ursprüngliche Eingang war schon vor Jahren zugenagelt worden, und so musste ich meinen Weg um das Gebäude herum etwas suchen. Hoch wucherte das Gras um die verwitterten Holzlatten des Zaunes. Ich sah eine Eidechse vorbeieilen. Sie blickte mich neugierig an. Ich war der einzige Passagier, und so dauerte es nicht lange, bis meine Vermieterin mir auf dem mit Schotter bedeckten Platz des Bahnhofes entgegen kam und mich mit einem kurzen „Mr. Wentzel?” begrüßte. Ich schüttelte freudig ihre Hand.
Der Himmel hatte eine azurblaue Farbe angenommen. Ich war bereits vier Tage in diesem kleinen ruhigen Dorf und hatte bereits gute Fortschritte verzeichnen können, so dass ich beschloss, mir einen Tag Auszeit von Papier und Füllfederhalter zu nehmen. Und so packte ich meinen kleinen Leinensack mit einem Apfel und einer Stulle mit Mett und machte mich auf den Weg, um die nähere Umgebung dieses Weilers zu erkunden. Ich hatte gehört, dass es in guter fußläufiger Entfernung einen Teich geben sollte, von dem ich mir angenehme Kühlung erhoffte. Ich marschierte also los, und da ich nicht sicher war, in welche Richtung ich gehen musste, fragte ich einen Farmer, den ich an einem Gatter passierte. Er blickte mich an, sagte aber nichts. Irgendetwas an seinem Aussehen ließ mich stutzen. Er hatte buschige, zusammengewachsene Augenbrauen, braune Augen, einen zotteligen Bart und sah insgesamt nicht sonderlich bemerkenswert aus. Etwas unsicher fragte ich noch einmal. „Ein Teich? So mit Wasser und so? Er soll irgendwo hier in westlicher Richtung liegen”. Der Farmer sah mich durchdringend an. Und da fiel mir auf, was mich so beunruhigte. Er hatte einen seltsamen Blick, seine Augen standen weiter auseinander als gewöhnlich, und jedes seiner Augen blickte etwas zur Seite, nicht auf mich. Wortlos hob er langsam seine Heugabel, auf die er sich die ganze Zeit gestützte hatte, und deutete mit ihr auf einen zugewucherten Pfad, der sich etwas weiter hinten entlangschlängelte. Ich dankte ihm und ging hastig weiter. Diese Begegnung hätte mich stutzig machen sollten, doch ich dachte mir in diesem Moment nichts dabei, denn ich befand mich nun mal auf dem Lande.
Nach einer Stunde hatte ich den Teich erreicht. Die brütende Hitze hatte mich erschöpft, und so sank ich erst einmal ins saftige schattige Gras, machte mich lang und schloss die Augen. Ich wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war, doch die Sonne stand bereits tief hinter den Ahornbäumen, die den Teich säumten. Ich machte mir nicht allzu viele Gedanken, noch in Helligkeit nach Hause zu kommen, denn im Mai waren die Tage lang genug. In meinem Säckchen kramte ich nach meiner Stulle, und machte mich hungrig über sie her. Mein Apfel war mir dabei aus den Sack gerollt, so dass ich ihn nun ein paar Meter weiter aufhob. Da bemerkte ich einen glitzernden Splitter im Erdreich! Er emittierte ein seltsames Licht. Ich hob ihn auf. Der Splitter war klein, nicht größer als eine Walnussschale, und ein äußerst seltsamer Gegenstand. Er leuchtete nicht nur, sondern er schien regelrecht zu pulsieren! Ich hob ihn hoch, und besah ihn mir genauer. Oh, hätte ich den Splitter doch nur fallengelassen und wäre losgerannt! Wäre gerannt, bis ich in meinem Kämmerchen gewesen wäre, hätte die Tür verschlossen, und wäre am nächsten Morgen abgereist! Als ich nämlich in den Splitter sah, irritierte mich ein sonderbares Schimmern. Das pulsierende Licht synchronisierte sich mit meinem Herzschlag. Badumm, badumm. Es wurde schneller und schneller, ich begann zu schwanken, mit wurde ganz flau im Magen! Und dann passierte etwas vollkommen Unerklärliches. Die Sonne, welche eben noch in einem orangefarbenen Ball ellenhoch über dem dunklen Wald stand, plumpste plötzlich auf die Erde, nein, hinter den Horizont, und es wurde schlagartig finster! Entsetzen packte mich. Das war doch nicht möglich? Ein Wind setzte ein und fuhr durch meine Glieder. Mir wurde kalt, so kalt, dass ich begann, mit den Zähnen zu klappen. Was sollte ich nur tun? Wo war ich hier hingeraten? Panik überkam mich. Wie sollte ich im Dunklen den Weg zurück finden?
Dort! Von einer Anhöhe hinter dem See schimmerte ein Feuerschein. Ich packte meinen Sack zusammen, suchte mir einen Weg durch das Dickicht und gelangte zu der Anhöhe. Was ich nun erblickte, ließ mir das Mark in den Knochen gefrieren. Riesenhafte Eichhörnchen tanzten um ein großes Feuer! Ihre Schatten zuckten gespenstisch über den Kessel hinter der Anhöhe. Augenblicklich warf ich mich zu Boden und hoffte, dass mich keins der Eichhörnchen entdeckt hatte. Mit Entsetzen hob ich meinen Blick und nahm das Spektakel in Augenschein. Ungefähr ein Dutzend schwarze Eichhörnchen tanzten einen wahnwitzigen Reigen, ihre buschigen Schwänze wedelten dabei umher und fächerten das Feuer damit noch an. Aus ihren riesigen Mäulern rann eine gelblich purpurne Flüssigkeit, zähflüssig und glänzend. Sie schienen in einem Trancezustand zu sein. Immerfort hoben sie ihre schrecklichen Köpfe in einem rhythmischen Singsang, der direkt aus der Hölle zu stammen schien. „Azithosch! Zifugg schoggathzi!” tönte es dumpf aus einem Dutzend Eichhörnchenkehlen. „Zifugg schoggathzi!!!”
Meine eigene Kehle schnürte sich eng zu. Mir wurde ganz elend. War
dies Fantasie oder Realität?
Das Feuer wurde immer größer, Funken stoben in die dunkle Nacht
hinaus. Die finsteren Kreaturen hatten schwarze Hufe, die sie nun
aneinander stießen. Welch unheilvoller Klang! Niemand kann sich auch
nur im Entferntesten vorstellen, was nun begann. Ich fange an zu
zittern, während ich das schreibe. In meinem Kopf drehte sich
alles. Unfähig, zu begreifen, welches satanische Schauspiel hier vor
sich ging, konnte ich nicht mehr klar denken. Mir blieb nur die Rolle
des fassungslosen Beobachters. Vollkommen steif lag ich auf der kalten
Erde und glotzte auf die verabscheuungswürdige Zusammenkunft schwarzer
Eichhörnchen. Wie ein Bild direkt aus der Hölle! „Wuuusch!” Rhythmisch
fegten die abartigen Schwänze hin und her, „wuuusch”! Heißer Wind
wehte mir entgegen, einzeln umherirrende Funken versengten mein
Haar. Ein Gestank hing über der schaurigen Szenerie, unvorstellbar
ekelhaft. Aus einem Dutzend schartiger Eichhörnchenkehlen ertönte
immer wieder: „Azithosch! Azithosch! Zifugg schoggatzhi!!!”
Mein Verstand wurde zerfetzt wie ein Stück Walnuss in den Zähnen eines
Eichhörnchens. Der Ruf hämmerte sich in mein Gehirn und brannte sich
ein. Dann, nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, gellte
ein langgezogenes Pfeifen durch die Luft. Die Frequenz brachte mein
Trommelfell an den Rand der Implosion. Abwechselnd sah ich schwarze
Schwänze, flackernde Feuer, bunte Blitze, schimmernde Sterne,
kastenförmige Kreise, seltsame Spiralen und weitere Sinnestäuschungen.
Die funkelnden Sterne am Himmel verfärbten sich in ein tiefes Schwarz. Der mittlerweile aufgestiegene Mond teilte sich und wurde zu sieben Monden, käsig verfärbt und mit weiß schäumendem Rand wie ein überreifer Camembert. Was nun folgte, zerriss meine Nerven vollends. Plötzlich hielten die Wesen inne! Mein Herz raste wie wild! Sie blickten in meine Richtung! Und dann – oh bedauernswerter Leser – sauste ein Eichhörnchenschweif über meinen erstarrten Körper! Schlimmeres als der Tod erwartete mich, da war ich mir sicher.
Augenblicklich zerbarsten die Spektren der Unendlichkeit in einem Meteoritenschauer und ergossen ihr Licht in alle Richtungen des Universums. Ströme heißer Lava flossen durch all meine Adern, explodierten in meinen Poren und bahnten sich von dort ihren Weg in die Welt. Kometen zischten vom Firmament und schlugen überall um mich herum ein. Die Erde brannte. Fratzen von unerklärlichem Geschlecht lachten und weinten gleichzeitig. Verfall, Gedeih und Verderb erfüllten die Luft. Ich fiel in die Lüfte… besah mir meine Milz, die aus mir hervorquillte wie zu heiß gekochter Pudding… ein Regenbogen voller chromatischer Chiffren leuchtete mir den Weg.
Und dann erinnere ich mich an nichts mehr. Ich wachte in meinem Bett auf, glotzte auf meine schlammüberkrusteten Schuhe und wunderte mich, ob ich das alles geträumt hatte. So saß ich dort über drei Stunden, dann – Gott bewahre – wurde ich gewahr, dass ein schwarzes kleines Eichhörnchen im Fenster saß und mich stumm beobachtete! Wie lange es dort bereits gesessen hatte, ich vermochte es nicht zu sagen. Ich bekam einen Schreck, schrie auf, und als ich wieder zum Fenster blickte, war es wieder verschwunden.
Keine Stunde später stand ich am Bahnhof und wartete auf den einzigen Zug, der an diesem Tag aus Hopeford Richtung Boston fuhr. Werter Leser! Niemand glaubte meinen mündlichen Berichten, zu hysterisch klangen sie und mein Verhalten im Sanatorium war zugegebenermaßen der Sache nicht förderlich. Ich hätte mir auch nicht geglaubt! Nichtsdestotrotz hoffe ich, das mein Bericht, den ich nach bestem Wissen und Gewissen angefertigt habe, die Bevölkerung rechtzeitig warnen kann vor dem Grauen von Hopeford!