Wichser
von Justin-Rolf Colt
Als Bernd vom Kohleschaufeln nach Hause kam, warf er die Schippe unachtsam in den Flur und ließ sich müde auf seinem Sofa im Wohnzimmer nieder. Es war mit Rußflecken beschmutzt. Die Wohnung roch nach Pipi. Er zog sich eine Dose Bier aus der linken Tasche seiner fleckigen Jogginghose und reagierte nicht, als sich beim Öffnen der Dose das warme und aufgerüttelte Bier fontänenartig über ihn und das Sofa ergoss. Er schlürfte den Schaum von der Oberseite der Dose und nahm danach einen tiefen Zug, mit dem er sie bis zur Hälfte leerte. Er ließ sich zurück in das Sofa sinken und spürte, wie sich das Bier langsam in seine Kleidung sog. Sein Magen knurrte, doch im Schrank war kein Büchsenfleisch. Er leerte die Dose.
Er dachte an die Schublade seines Nachttischs. War er heute soweit? Wie lange sollte das noch so weitergehen?
Er erinnerte sich an früher. Als Kathie und die Kinder noch bei ihm lebten. Als er von Nachbarn und Kollegen respektiert und geachtet wurde.
Einst war er Autor erfolgreicher Diätbücher. Gesunde Ernährung war seine Leidenschaft und er und die Seinen lebten ein erfülltes und wohlgefüttertes Leben. Doch als Bernds Bruder Sylvio unerwartet bei einer Runde russischen Roulettes in einem Schweizer Puff ums Leben kam, zerbrach etwas in dem sonst so gelassenen Familienvater. Mit der Zeit wurden seine nahrungsbezogenen Ansichten immer extremer. „Abnehmen mit Katzen“ war die erste seiner ideologisch immer radikaler werdenden Veröffentlichungen. Bei „Der Hass kocht mit“ verlor er nicht nur den Zugang zu seinen Lesern, sondern auch immer mehr zu sich selbst und am allerschlimmsten: zu seiner Familie. Das nihilistische „Kochen mit Bauschutt“ war sein letztes veröffentlichtes Werk und die mickrigen Verkaufszahlen besiegelten das Ende seiner Karriere.
Er ging nicht mehr vor die Tür, trank den ganzen Tag Orangensaft und war gemein zu den Kindern.
Timorpf (8) und die kleine Katinka (7) – Zwillinge (durch Komplikationen bei der Geburt kam Timorpf erst ein Jahr später zur Welt). Der Junge war der reinste Wirbelwind, ein bisschen langsam, aber zum Glück stabil. Katinka dagegen war das schlaue Köpfchen der Familie, bereits mit 5 Jahren begann sie ihre ersten Worte zu sprechen. Er vermisste sie beide sehr.
Eine übelriechende Träne kullerte seine kohlegeschwärzte Wange hinunter und platschte in die Pfütze aus Bier und Selbstmitleid zwischen seinen Füßen. Wieso sollte er noch länger warten?
Er erhob sich mit einem matschig-reißenden Geräusch vom Sofa und durchsuchte die nusshölzerne Wohnwand nach einem letzten Bier. Alles was er fand waren seine John-Brecher-VHS-Sammlung – John Brecher war der Held seiner Kindheit: ein homizidaler Cop, der nach seinen eigenen Regel spielte und sich durch die New Yorker Unterwelt ballerte, um den Tod seiner Familie zu rächen (Bernd hielt den Plot-Twist in „John Brecher VIII – Pennertango“, in welchem sich herausstellt, dass Brecher selbst seine Familie massakriert hatte, für ziemlich clever) – und eine trächtige Nachbarskatze, die ihn giftig anfauchte und versuchte, seine Hand zu zerkratzen. Nicht mal ein letzter Trunk war ihm vergönnt.
Als er durch den Flur Richtung Schlafzimmer schlurfte, starrten ihn die hellen Quader auf der Tapete, die einst von Bildern aus besseren Zeiten bedeckt waren, vorwurfsvoll an. Ob sich Jesus ähnlich gefühlt hatte? Er warf einen Blick in das leere Kinderzimmer, der auf schimmlige Tapete und eine angebissene Isomatte fiel. Er vermutete, dass das Zimmer schon seit geraumer Zeit von jugendlichen Punkern als Schlafstätte genutzt wurde. Kalter Wind wehte durch das zerbrochene Fenster und flüsterte ihm ins Ohr, dass er hier nicht willkommen sei. Er ließ den Kopf sinken.
Er hievte sich gen Schlafzimmer, in dem, neben der durchgelegenen Matratze, umringt von leeren Saftflaschen, nur ein deplatziert wirkender Nachttisch verlassen ins Zimmer ragte. Einst hatte ein Doppelbett den Raum gefüllt. Ein Bett, in dem er, in einem anderem Leben, täglich auf seiner Frau eingeschlafen war. Sie hatten sich in einem Swingerclub kennengelernt. Kathie hatte damals rotblondes Haar, ein grünes und ein braunes Auge. Bernd hatte sich auf der Stelle unsterblich in die bemühte Grundschullehrerin verliebt. Ein halbes Jahr später kamen die Kinder zur Welt. Sie verließ ihn für den Tierarzt, obwohl der Hund bereits Jahre zuvor gestorben war. Normalerweise nahm Bernd seinen Schmerz nur als dumpfes Pochen war, heute brannte er in ihm, als habe man ihn den Dolch gerade frisch ins Herz gestoßen. Schluchzend sank er auf die Knie, als sein Körper von immer stärkeren Heulkrämpfen durchzuckt wurde und ihm Schleim aus Nasen und Augen blubberte. Nein, es war genug. Er würde nicht länger warten.
Auf allen Vieren kroch er zum Nachttisch. Seine schmutzige, vom Schaufeln gezeichnete Hand packte entschlossen den Knauf der Schublade und zog sie langsam, aber bestimmt auf. Es war zu dunkel im Zimmer um den Inhalt der Schublade erkennen zu können, doch Bernd wusste genau, was er vor sich hatte. Er wurde ruhig. Der Schmerz schien sich aufzulösen und wurde durch ein Gefühl von Erleichterung ersetzt. Seine Hand begann ein wenig zu zittern vor Aufregung – vor Vorfreude? Er griff in die Schublade und nahm das abgegriffene, angeknusperte Pornoheft heraus, masturbierte wild die halbe Nacht hindurch und fiel irgendwann, wund und erschöpft, in einen traumgeplagten Schlaf. Am nächsten Morgen machte er sich übermüdet, aber erleichtert auf den Weg zur Mine.