Der Wolf im Fahrstuhl
von Ficky Zwölf
Kraftfahrer Mark fuhr strammen Fußes die in Dunkelheit gehüllte Landstraße herab. Alles, was seine müden, zusammengepressten Augen wahrnehmen konnten, waren die kleinen Lichtkegel, welche die alten Scheinwerfer seines LKWs lieblos auf den rissigen Asphalt warfen. Vom Straßenrand aus blitzten ihn in immer kleiner werdenden Abständen wütende Katzenaugen an. Er nahm einen tiefen Schluck aus der bald leeren Pfefferminzschnapsflasche und drehte am abgenutzten Lautstärkeregler seines Radios. So laut und klar hat er Jon Bon Jovis Worte noch nie wahrgenommen. Er war fast da. Er leerte die Flasche und warf sie achtlos aus dem Fenster.
Beinahe hätte er das von garstigen Ranken umschlungene Schild übersehen. Die Bremsen seines LKWs schrien auf wie brennende Kinder, als er das Pedal gewaltsam zu Boden trat und das Lenkrad entschlossen nach links riss. Er erwischte die Abfahrt gerade so. Nach wenigen Metern gab die deutlich vernachlässigte Straße ganz auf und ging in einen engen Schotterweg über. Schwarze Schatten dichtstehender Nadelbäume säumten den Weg. Sie starrten ihn vorwurfsvoll vom Wegesrand an und rückten immer dichter auf, wie alte Menschen an der Supermarktkasse. Bald kratzten Äste wie lange, dürre Finger an den Fensterscheiben, als wollten sie sich Zugang zum Inneren des Fahrerhauses verschaffen. Mark schwitzte wie ein Schwein, und nach kurzer Zeit klebte der mysteriöse Wolf auf seinem T-Shirt nass an seiner unreinen Haut.
Zwei leuchtende Augen in der Dunkelheit. Mark stieg mit beiden Füßen auf das Bremspedal, doch zu spät. Er traf irgendwas mit voller Wucht und zerschmetterte es in tausend Teile. Ein rotbrauner Brei spritzte wie matschiger Schnee über seine Windschutzscheibe. Der Lastwagen kam von der Straße ab und pflügte durchs schwarze Unterholz, bis er an einem großen Baumstumpf endlich zum Stehen kam.
Mark stellte den Motor ab und atmete tief durch. Er öffnete das Handschuhfach und nahm eine Pistole heraus, welche er sich ungelenk zwischen Jeans und eine gefälschte Calvin-Klein-Unterhose schob. Er fühlte sich sicherer, obwohl er immer etwas Angst davor hatte, sich so den Penis abzuschießen. Er öffnete die Fahrertür und stieg aus. Das wenige Licht, das aus der offenen Fahrerkabine strahlte, schien von der Finsternis fast vollständig aufgefressen zu werden. Ein Käuzchen protestierte melancholisch im Hintergrund. Mark ließ seinen Blick langsam durch die Dunkelheit gleiten und pisste sich fast in die Hose, als er am Ende seine Anhängers eine Gestalt stehen sah. Mark griff sich sofort in den Schritt und verletzte sich nur leicht dabei, als er seine Waffe aus dem Hosenbund riss. Er feuerte wild in die Dunkelheit. Die schemenhafte Gestalt bewegte sich unbeeindruckt auf ihn zu. Ein Flüstern hauchte durch die schwarzen Bäume: „Kauf Wurst!“ Mark machte zwei Schritte zurück, stolperte über einen missgünstigen Stein und traf einen weiteren mittig mit dem Hinterkopf.
Mit einem halb verschluckten Aufschrei erwachte Mark. Erleichtert gab er einen tiefen Seufzer von sich. Alles nur ein Traum. Doch die Erleichterung währte nur kurz. Er riss die Augen auf und starrte in das kalte Licht einer Neonröhre, die an einer grauen, von Rissen zerfurchten Decke befestigt war. Wo zum Teufel war er? Er lag mit dem Rücken auf einer harten, kalten Oberfläche. Er hatte Bauschmerzen und sein Nacken war so steif, dass er seinen Kopf kaum heben konnte, um sich umzuschauen. Die Luft war klamm und abgestanden, wie der Atem einer alten Katze. Es roch nach billigem Waschmittel und alter Zeitung. Auf seiner Zunge lag ein merkwürdig metallischer Geschmack, als hätte er sie genüsslich durch das Münzfach seines Geldbeutels wandern lassen. Vorsichtig drehte er seinen Kopf nach links. Über einer alten Waschmaschine hing das strenge Gesicht von Jean-Claude Van Damme, welcher ihm einen ermutigenden Blick, über einen glänzenden Bizeps hinweg, zuwarf. Mark kam das merkwürdig vertraut vor. Mit zusammengebissenen Zähnen drehte er seinen Kopf nach rechts. Über einem einst weißen Plastikgartenstuhl hingen Klamotten, seine Klamotten. Auf der Sitzfläche lagen eine blutverkrustete Stoffschere und ein ebenso serienmörderfreundliches Küchenmesser. Mark hatte ein ungutes Gefühl. Langsam hob er seinen Kopf nach vorne, und was er erblickte, ließ ihn beinahe in seinen eigenen Bauch kotzen.
Ungläubig starrte er in seinen bis zur Brust geöffneten Oberkörper und war wie gebannt von dem Anblick seiner eigenen pulsierenden Organe. Er musste an vergessenen Obstsalat denken. Irgendjemand hatte ihn aufgeschlitzt. Irgendjemand, der keine Ahnung vom Aufschlitzen hatte. Sein Bauchlappen sah aus wie die ersten Bastelversuche eines bipolaren Dreijährigen. Auf dem Boden lag ein Wasistwas-Buch „Der menschliche Körper“. Plötzlich überkam ihn ein schrecklicher Gedanke. Er zählte panisch seine Organe, aber soweit er es beurteilen konnte, war er noch vollständig. Wer auch immer mit dieser dilettantischen Vivisektion begonnen hatte, war offensichtlich noch nicht fertig. Er musste hier raus, aber mit einer offenen Bauchdecke würde er nicht weit kommen.
Mark streckte seinen rechten Arm aus und durchsuchte die Taschen seiner Jeans. Bingo! Nach dem feuchten Kuss zweier benutzter Taschentüchern und einer Handvoll Petuniensamen bekam er sein Taschenmesser zu fassen. Als nächstes versuchte er, seine grünen Air-Jordans zu erreichen, die er unter dem Gartenstuhl entdeckt hatte. Er ließ seine Schulter langsam über die Kante des Küchentischs gleiten, immer darauf bedacht, seine Gedärme nicht plötzlich in den schmutzigen Waschkeller zu verschütten. Er bekam einen der abgetragenen Turnschuhe gerade so mit zwei Fingern zu fassen.
Mit rasendem Herz begann er, den neongrünen Schnürsenkel von dem abgetragenen Turnschuh zu befreien. Mark biss das Ende des Schnürsenkels ab, um ihn besser mit dem Taschenmesser verknoten zu können. Mit zitternden Händen setze er seine improvisierte Nadel an und begann mit der Reparatur seiner aufgerissenen Plauze. Nach 10 Minuten hatte er es geschafft. Erschöpft begutachtete er sein Werk. Es sah scheiße aus.
Mark hoffte, dass sich nichts entzünden würde.
Er richtete sich vorsichtig auf. Bis auf ein leichtes Ziepen schien alles in Ordnung zu sein. In der Ecke des Raumes sah er eine Treppe, die zu einer Tür hinauf führte. Mark schleppte sich mühsam die Treppe hoch. Am Ende der Treppe angekommen, öffnete er vorsichtig die Tür. Er lugte durch den Spalt und starrte in einen schlecht gepflegten Wohnungsflur. Er öffnete die Tür weiter und trat hindurch. In einem Zimmer lief ein Fernseher, irgendwas über Hitler. Mark folgte den Stimmen und ging ins Wohnzimmer. Katja saß auf dem Sofa, ihre Augen rot vom Weinen. Mark ließ sich neben sie auf das Sofa fallen.
„Es tut mir leid“, sagte sie.
„Ist schon okay“.
Vor der Tür belud Jon Bon Jovi einen Umzugswagen.