Gruppe 13


Räuberpistolen für den Hausgebrauch


Wahrsagerin vom Schwarzen Meer

von Abdul-Hakim Murtadhy Saliba

Das Riesenrad schwang sich gerade müde zu einer seiner letzten Runden auf, als er auf dem Jahrmarktgelände ankam. Etliche Glühbirnen daran waren bereits ausgefallen, und es ächzte bedenklich. Als Kind hatte er Riesenräder geliebt, das langsame In-die-Höhe-Steigen, sich von dem ganzen Lärm Meter für Meter zu entfernen, bis man oben nur noch Geräuschfetzen wahrgenommen hatte, und einem ein kühles Lüftchen um die Ohren pfiff. Seit dieser längst vergangenen Zeit war er nicht mehr in so einem Ding gesessen. Ob es immer noch so reizvoll sein mochte?

Heute abend blieb ihm keine Zeit, es auszuprobieren. Er ging schnellen Schrittes durch die halbleeren Gassen voller achtlos weggeworfener Pappteller und zornig zerknüllter Losnieten, warf dem Gorilla vor der Geisterbahn einen grimmigen Blick zu und stand schließlich nach ein paar Minuten vor dem kleinen Zelt. Silberne Pailetten billigster Art klimperten im Abendwind. Immerhin war das Schild über dem Eingang recht gelungen, wie er fand, in hübscher Schrift, ein selbst gepinseltes „Wahrsagerin vom Schwarzen Meer“ stand da. Originell war das nicht, wie er zugeben musste, aber scheinbar genau das, was die Leute lesen wollten. Die Zelttür war halb aufgeschlagen, und er lugte herein. Monsieur Alphonse saß im Schneidersitz innen und schien ihn nicht zu bemerken. Abgesehen von ein paar wenigen Details, konnte er tatsächlich als eine Frau durchgehen, im Verkleiden hatte Monsieur Alphonse bereits einige Routine. Katschinke wusste, dass es nichts mit seinem Job zu tun hatte; die Leute erwarteten einfach eine Hellseherin und keinen Hellseher, sonst wurden sie misstrauisch.
An der Wand lehnte ein Surfbrett. So wie es aussah, hatte es schon viele Wellen abgeritten in seinem Leben.
Ebenso an der Wand lehnte die Wahrsagerin alias Monsieur Alphonse. Sie hatte etwas weniger Wellen abgeritten als das Surfbrett, was insofern nicht verwundern musste, da das Schwarze Meer gar nicht so viele Wellen besaß. Die Wahrsagerin schien ermattet.
Er trat ein, schlug die Zeltklappe zu und räusperte sich. Monsieur Alphonse öffnete sein linkes Auge und starrte ihn an.
Katschinke starrte zurück. Nach einer Weile holte Monsieur Alphonse einen beigefarbenene Koffer unter seinem kleinen Tisch hervor und stellte ihn darauf. Er tat dies mit einer Ruhe, welche Katschinke nicht erwartet hatte. Monsieur Alphonse drehte bedächtig das Zahlenschloss, wobei er sich bemühte, es mit der Hand zu schützen, dass Katschinke die Zahlenkombination nicht sehen konnte. Er tat dies jedoch so ungeschickt, dass es Katschinke keine große Mühe bereitete, die Zahlen zu sehen. Er ließ sich nichts anmerken und starrte die Wahrsagerin vom Schwarzen Meer weiter unbefangen an. Das Schloss schnappte schließlich auf. Mit einem bedeutungsschwangeren Blick ließ Monsieur Alphonse den Moment etwas wirken, bevor er langsam in den Koffer hineingriff, und eine kleine Schildkröte herausholte.
Albernes Getue, dachte sich Katschinke, behielt es aber für sich. Achselzuckend ließ er das Theater über sich ergehen, und wartete darauf, dass er endlich hier verschwinden konnte. Er hatte schon seit Stunden nichts mehr gegessen, mit Ausnahme eines alten Pfefferminzbonbons, das er einem Jungen vor dem Mäusezirkus weggenommen hatte. Monsieur Alphonse schien allerdings noch nicht fertig mit seiner geheimniskrämerischen Vorstellung zu sein. Er streichelte die Schildkröte mit seinem rechten Zeigefinger über den Panzer, und summte dabei leise. Vermutlich ein altes Volkslied vom Schwarzen Meer, dachte sich Katschinke sarkastisch.
Er zweifelte schon an der geistigen Verfassung seines Gegenübers, da wurde er von einem lauten Knall aus seiner Einlullung gerissen. Leicht benommen blickte er sein Gegenüber an. Monsieur Alphonse sang nicht mehr, sondern starrte auf die Schildkröte in seinen Händen. Um genauer zu sein, er starrte in das, was einmal seine Schildkröte gewesen war. In seinen Händen befand sich ein Schildkrötenpanzer, dem eine verspielte kleine Rauchsäule entstieg. Das Ding war in seinen Händen explodiert! Katschinke starrte gebannt in die Augen seines Gegenübers. Eine unangenehme Stille legte sich über den Raum. Von draußen schwebte eine leise Melodie herein, eine Frau lachte schrill in der Ferne. Monsieur Alphonse sah ihn reglos an. Ganz langsam stieg Wasser in seine Augen, eine dicke Träne sammelte sich und lief dessen Wange. Sie hatte es nicht eilig, ja sie schien sogar den Moment möglichst lange auskosten zu wollen. Nach gefühlten Minuten hatte sie das Kinn erreicht und seilte sich von dort auf die Tischplatte ab, wo sie mit einem kaum hörbaren Platsch zerklatschte. Mehr Tränen kamen nicht, aber Monsieur Alphonse war in einen tranceartigen Zustand gefallen.
„Entschuldigen Sie vielmals“, begann Katschinke zaghaft, „ist da gerade eben Ihre Schildkröte explodiert?“
Monsieur Alphonse sah ihn mit leeren Augen an.
„Hören Sie mich?“ fragte Katschinke, nun etwas gefasster.
Doch sein Gegenüber schien in einer anderen Welt zu weilen. Katschinke blieb wohl oder übel nichts anderes übrig, als abzuwarten, wie sich die Dinge nun entwickeln würden. Nach einer unangenehmen Zeit der Stille, und als sich der Brandgeruch endlich verzogen hatte, schien Monsieur Alphonse wieder ins Diesseits zurückzukehren. Mit einer verblüffenden Behändigkeit wirbelte er den Schildkrötenpanzer ein Dutzend mal herum und flitschte schließlich mit dem Daumen hinein, um ihn geschickt umzudrehen. Auf der Rückseite leuchteten Buchstaben auf! Katschinke konnte es kaum glauben. Er starrte gebahnt darauf, und nickte dann. „KAI ACHTZEHN“. Er warf Monsieur Alphonse einen Zehner hin. Und schon war er aus dem Zelt.
Es roch nach altem Frittenfett. Die Zuckerwattemaschine hatte bereits Feierabend, und der Süßwarenhändler wischte die abgegriffenen Plexiglasscheiben ab.
Er kaufte sich ein überteuertes Tütchen gebrannter Mandeln, und bugsierte die klebrigen kalten Klumpen mit Daumen und Zeigefinger in seinen Rachen. Er fand sie gar nicht so übel, dafür dass sie bereits eine Weile in der Auslage ausgeharrt haben mussten. Er mochte den Jahrmarkt. Besonders diese ausgebrannten letzten Minuten des Rummeltages, in denen es kein Gedränge mehr gab, mochte, wie die Lichter der Buden in Unschärfe übergingen, wenn er die Augen zukniff, mochte, wie die achtlos fortgeworfenen Losnieten und Fischbrötchenpapiere im bereits kühlen Nachtwind leise umherwirbelten.
Die Zitronenlimonade brannte in seinem Rachen.
Mittlerweile war es ruhig geworden. Die Dunkelheit der Nacht senkte sich schwer atmend über die Buden und Fahrgeschäfte. Katschinke schaute einen Moment in den Himmel, und ging dann nicht allzu schnell, aber bestimmt Richtung Ausgang. Auf der Straße war auch nicht viel Verkehr, und wenn Autos vorbeikamen, brausten sie in einem Affenzahn die Tangente hinab, sichtlich begeistert über den vielen freien Asphalt.
Zum Hafen war es nicht weit, und so machte sich Katschinke dorthin zu Fuß auf den Weg. Eine Alternative hatte er auch nicht, Taxen waren nicht zu sehen, die U-Bahn schlummerte bereits, und Busse fuhren hier nicht. Es pfiff ein eisiger Wind. Die leichtbekleideten Nutten waren kein schöner Anblick, wie sie da so vor sich hinfröstelten, hinter dem Rot ihres Lippenstiftes schimmerte das Blau ihrer Lippen. Besoffene Touristen stolperten über die Bordsteinkante und fielen in den Gulli.