Gruppe 13


Räuberpistolen für den Hausgebrauch


Das Krähen der Kaninchen

von Carl Bombe

Ross-Vita konnte nicht atmen. Das Gewicht ihrer Nachbarn wog zu schwer auf ihr. Aber so war es nun mal in einem Massengrab. Sie keuchte und japste gemuffelt vor sich hin und dasselbe Schicksal, welches die Menschen über und unter ihr und um sie herum ereilte, rückte bedächtig, aber unaufhaltsam näher. Ihre versuchten Atemzüge wurden immer kürzer und flacher und als das Leben langsam aus ihr herausgepresst wurde, schweiften ihren Gedanken zurück zu der Zeit vor dem Krieg.

Es war ein Frühlingsmorgen aus dem Bilderbuch. Die Luft war noch kalt und frisch von der Nacht, doch der Himmel war glasklar und Ross-Vita spürte die Wärme der ersten Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sie stand am Fenster und hing wie immer Möhrchen auf, um die Kaninchen anzulocken, die zu dieser Jahreszeit wie üblich das Land vom Süden her überquerten, um in den eisigen Klippen des Nordens ihren Sommerunterschlupf einzurichten. Ross-Vita hörte das vertraute Rumpeln der Treppe, als ihre Kinder Mike, Dike und Spike die Stufen herunterpurzelten.
„Sind die ‘ninchen schon da?“, krakeelten die Kinder im Chor.
„Nein, noch nicht. Geht erst mal in den Schuppen und holt euch etwas zu essen.“
Sie verpasste Dike einen gezielten Hieb aufs Ohr, weil sie ihn etwas weniger mochte als die anderen beiden. Nachdem die Kinder ihre Holzscheite verspeist hatten, wurden sie von Ross-Vita endlich in den Garten entlassen. Dort warteten bereits die Nachbarn und Nachbarskinder mit ihren Transparenten und Trompeten, um den Kaninchen einen gebührenden Empfang zu bereiten. Die Kinder erbrachen sich vor Freude, als ihre Mutter ebenfalls ein Transparent aus dem Ärmel zauberte.
„Hallo Kaninchen. Schön, dass ihr da seid“, stand darauf geschrieben, und die Kinder schlugen sich sogleich darum. Vor allem Dike musste ordentlich einstecken, weil er ja bereits angeschlagen war. Ross-Vita schmunzelte. Dann rief plötzlich jemand „Da! Am Horizont. Sie kommen!“ Und tatsächlich: am Firmament erschienen mehr und mehr winzige braune Punkte. Bald waren es so viele braune Punkte, dass sie zu einem einzigen riesigen Punkt verschmolzen. Als sich der gigantische Schwarm vor die Sonne schob, übernahm die morgendliche Kälte wieder das Kommando und Ross-Vita zitterte. Schon bald vernahmen sie das Krähen der Kaninchen.
„Irgendwie klingen die komisch“, sprachen die Kinder im Chor und Ross-Vita nickte schweigend. In der Tat klangen die fliegenden Nagetiere anders als gewöhnlich. Sie rieb sich die Arme, um sich aufzuwärmen. Irgendetwas stimmte nicht und sie verspürte plötzlich ein tiefes Unbehagen.
„Mike, Dike und Spike, geht ins Haus und setzt das Benzin auf! Ich möchte gleich mit euch trinken“, sagte sie.
„Aber Mama, wir wollen doch die Kaninchen sehen!“ protestierten die Kinder im Chor.
„Guck mal, sie sind schon fast hier!“
„Keine Widerworte! Ihr geht jetzt sofort ins Ha..“
Ein Schrei schnitt ihre Worte ab. Ross-Vita drehte sich um und starrte mit Entsetzen in das sich ausbreitende Chaos. Statt wie üblich sanft zu den angebotenen Möhren zu segeln, stürzten sich die Kaninchen wie kleine, flauschige Bomben in die Menschenmenge. Nach ihrem Einschlag verbissen sie sich in Gesichter, Hälse und alles an freiliegender Haut, was für sie erreichbar war. Sie fraßen sich durch Augen, Ohren und Münder in die Köpfe der Menschen und machten erst Halt, wenn diese leblos zu Boden fielen. Ein brauner Punkt sauste mit einem aggressiven „Jiiiiieeee!“ direkt auf Ross-Vita zu. Sie machte einen perfekt getimten Ausfallschritt zur Seite und zerteilte den im Blutwahn befindlichen Nager mit einem Handkantenschlag in zwei Teile. Nun zahlte sich aus, dass sie bereits bei den ersten Schwangerschaftsanzeichen einen Krav Maga-Kurs belegt hatte. Die Kaninchenhälften plumpsten zu Boden. Eine bewegte sich noch. Ross-Vita wollte los zum Haus, um sicher zu gehen, dass zwei ihrer Kinder in Sicherheit waren, als sie ein heiseres, piepsiges Lachen vom Boden vernahm. Ross-Vita packte die obere Hälfte des Kaninchens mit Daumen und Zeigefingern am Kragen:
„Was wollt ihr?“ schrie sie dem halben Häschen ins Gesicht.
„Hi hi, ihr seid dem Untergang geweiht, Mensch“, sprach das Tier, während es winzige Bluttröpfchen spuckte. Ross-Vita schüttelte es wild.
„Ich habe gefragt, was ihr wollt. Warum tut ihr das?“ Doch das Kaninchen war bereits entschlafen. Stürzenden Nagern ausweichend und selbige richtend, bahnte sie sich den Weg zu ihrem Haus. Die Kinder hatten es ebenfalls geschafft. Alle außer Dike. Ross-Vita atmete erleichtert durch.

Ross-Vita atmete nicht mehr. Oder doch? Aus einem ihr unbekannten Grund hatten sich die Leichen über ihr verschoben und während sie kurz befürchtete, dass ihr Brustkorb unter all dem Gewicht jeden Moment zerdrückt werden würde, verlagerte sich der Druck so, dass sie plötzlich wieder ein kleines Bisschen der warmen, fauligen und von Sauerstoff fast gänzlich befreiten Luft in ihre schmerzenden Lungenflügel saugen konnte. Waren das Stimmen?

„Wir brauchen mehr Katzen!“, brüllte der General in die letzten Überreste der Führungsriege der letzten Überreste der Menschheit. „Mehr Katzen und mehr Kanonen!“ brüllte er weiter.
„Kanonen? Woher sollen wir Kanonen nehmen? Das erste was diese flauschigen Bastarde zerstört haben, war die Kanonenmanufaktur. Und selbst wenn das Gebäude noch stünde - es gibt niemanden mehr, der Kanonenbälle zu blasen weiß, geschweige denn wie man die Sprengblumen erntet, ohne dabei den Kaninchen die Arbeit abzunehmen. Und die Katzen. Die Katzen werden nicht kommen. Kanzler X-Otter hat uns alle dem Untergang geweiht, als er auf ihre Forderungen nicht eingegangen ist“, entgegnete ihm Sharif von der Hohenkannte. „Sie wollten zu viel!“ brüllte der General, aber weder Sharif noch sonst irgendwer hielt es für wert, darauf einzugehen. Ross-Vita blickte in die schweigende Runde. Der brüllende General geiferte nur noch, aber schloss sich grundsätzlich dem Schweigen an. Sharif von der Hohenkannte lehnte sich müde gegen sein abgenutztes Reitschaf. Die Zwillinge von Darr starrten mit ihren großen, smaragdfarbenen Augen ins Nichts. Der Greis vom Berge war sichtbar gealtert und die Hundeleute von Abellonien stellten sich mit ihren Gesichtern im eigenen Schritt schlafend. Wie sollte dieser mutlose Haufen die letzten Überreste der Menschheit vor den Kaninchen retten. Da kam Ross-Vita plötzlich eine Idee. Sie räusperte sich vorsichtig und dann nochmal etwas lauter, als niemand reagierte. Sie hustete sehr laut und auffällig und spuckte vor sich auf den Boden, schob sich den Finger langsam in den Hals und würgte.
„Ja, Ross-Vita?“ fragte Sharif genervt.
„Sag doch bitte einfach was du uns sagen möchtest.“
Ross-Vita kotzte ein bisschen und danach sprudelten die Worte und noch etwas Mittagessen aus ihr heraus:
„Also, ich hatte gerade diesen Gedanken - und zwar: was, wenn wir unsere Situation einfach mal aus einer anderen Perspektive betrachten würden?“

Fortsetzung folgt…

Lesen Sie jetzt bereits den Teaser zum zweiten Teil:

Etwas nagte an Ross-Vita und sie stellte erleichtert fest, dass es kein Kaninchen sondern nur ihre Gedanken und eine fiese Ratte Namens Jens waren.