Gruppe 13


Räuberpistolen für den Hausgebrauch


Fügüü

von David Goldmeise

Ganz Williamsburg war ein Dreckhaufen. Es stank an jeder Ecke. Essensreste, Pisse, Pferdescheisse und Verwesungsgeruch der Vierbeiner, die nach Erfüllung ihrer Pflicht einfach am Straßenrand vor sich herfaulten, bevor die Fliegen genug von ihnen abgenagt hatten, damit man sie hinfort transportieren konnte. Der dichte Rauch, der wie schwarze Kartoffelsuppe aus den Kaminen kroch, konnte das olfaktorische Gesamtwerk nicht schönen. Es war wie eine hässliche Prostituierte, die mit den Jahren nur eine immer größere Schicht Puder über ihre Falten aufträgt, vergeblich. George gab Gas. Mit seinen 14.29 mph preschte er an den Kutschen und Reitern vorbei, der Motor schrie und übertönte das Klackern der Metallräder auf dem Kopfsteinpflaster. Mit eisernem Griff umfassten seine Hände das Lenkrad. Er fuhr selbst, was sehr unüblich war für die wenigen reichen Einwohner Brooklyns, die sich überhaupt ein Automobil leisten konnten. Aber George war ein Mann der Straße – und er vertraute keinem. An der Ecke Ten Eyck Plaza hielt er kurz an und ließ seine Schwester zusteigen. Meredith war eine hoch gewachsene Schönheit, grazil und stets adrett gekleidet, umgeben von einer Aura morbider Unnahbarkeit. Sie ließ sich auf der Sitzbank neben ihrem Bruder nieder und steckte sich eine Zigarette an, deren Rauch sie durch eine lange, hölzerne Spitze inhalierte. Noch wusste sie nicht, dass es ihre letzte sein sollte.

George war sich seiner Sache sehr sicher gewesen. Seit fast einem viertel Jahrhundert übte er den Beruf des Box-Promoters aus. Im Schatten des Rings hatte er große Familien kommen und gehen gesehen, mächtige Männer zu seinen Freunden gemacht und mit den Jahren untrennbare Blut-Bande zwischen ihm und den unsichtbaren Kräften geschmiedet, die in dieser Stadt über Reichtum und Armut, Freiheit und Sklaverei, Leben und Tod entschieden. Und das war in diesen Jahren niemand geringeres als die DaLucio Familie. Wenn irgendwo eine Schrotflinte das Gesicht eines Mannes zerfetzte, eine Bombe ein ganzes Wohnhaus einriss oder ein Politiker sein Amt nicht mehr ausüben konnte, weil ihm die Zunge herausgeschnitten worden war – die DaLucio Familie war nicht weit. Kein Bürger der Stadt, keine Frau, kein Mann, kein Kind und kein Hund war vor ihnen sicher. Das Gesetz galt für diese Familie nicht, diese Familie war das Gesetz. Keiner sprach darüber, aber die ganze Stadt wusste es. Meinte es zu wissen. Denn das Blatt hatte sich gewendet.

„Wer kämpft heute eigentlich?“ fragte Meredith ihren Bruder, als sie durch den Hintereingang des Grand Metropolitan Convention Centers in Richtung der Wettbüros schritten. „Bobby Big Hutchons gegen Les Barber und Freddy Knuckle gegen Carlo DaLucio“ antwortete George.
„…DaLucio?“ wunderte sich Meredith, „ist das einer aus der Familie…“ George blieb stehen, griff seine Schwester fest am Arm und flüsterte in scharfem Tonfall in ihr Ohr: „Sei still. Stell keine Fragen!“
Meredith schluckte. Schweigend folgte sie ihrem Bruder weiter durch die dunklen Gänge. Es war kalt. Und leer. Wo waren die Buchmacher? Die Boxer? Ihre Trainer? Meredith hatte noch nicht viele Boxkämpfe in ihrem Leben gesehen, doch meinte sich zu erinnern, dass an den anderen Austragungsorten zwei Stunden vor Kampfbeginn mehr Menschen zu sehen gewesen waren. Ein ungutes Gefühl beschlich sie.
George ging vor Meredith her, seine schnellen Schritte hallten laut von den Wänden. Plötzlich blieb er vor einer kleinen, halbgeöffneten Tür stehen und bedeutete Meredith, den Raum zu betreten. Nur schemenhaft erkannte sie die Wände und einen Tisch, um den etwa fünf oder sechs ebenfalls dunkel gekleidete Personen saßen. Ihr Herz klopfte schneller und schneller, sie hätte auf der Stelle umkehren und herausrennen wollen, doch irgend etwas hielt sie davon ab. George trat hinter ihr in den Raum. Die Tür fiel ins Schloss. Ein leises Geräusch ließ erahnen, dass von außen ein Riegel vor die Tür geschoben wurde. Doch von wem? Dort war niemand zu sehen gewesen.

Das Fügüü nahm die zwei Personen, die soeben den Raum betreten hatten nur als das wahr, was sie für es darstellten: ein Spielzeug, ein Werkzeug um zu wachsen und eine Möglichkeit, seinen Hunger nach Fleisch einen Moment zu stillen. Es atmete tief ein, dann bewegte es langsam einenseiner menschlichen Tentakel, den es durch seine telepatischen Kräfte steuerte: einer der Männer am Tisch stand auf und ging auf Meredith zu. Seine leeren Augenhöhlen richteten sich auf die Frau, die sofort in Ohnmacht fiel. Er beugte sich herunter, hob sie unsanft hoch und legte sie auf die Mitte des Tischs. George, der die Szene ungläubig mit angesehen hatte, griff in Bruchteilen von Sekunden in seinen Mantel und hatte plötzlich seinen Revolver auf die Männer gerichtet: „Stopp!“ rief er und gab einen Warnschuss an die Decke ab. Putz rieselte herunter.
Doch die Männer – die nur noch leblose Extremitäten des Fügüü waren – ließen sich nicht von ihrem teuflischen Treiben abbringen. George sah nur noch Blut spritzen und Fleischfetzen an die Wände fliegen. Er schoss und schoss wieder und wieder auf die Männer, bis das Magazin leer war. Doch die Männer zeigten keine Reaktion. Dann stürzte er zu Boden, seine Augäpfel wanderten ins Innere des Kopfes, er zuckte. Er erbrach sich. Dann raffte er sich auf, ging wie ein Untoter an den Tisch und begann dem schaurigen Ritual an seiner Schwester Meredith beizuwohnen. Er war nun Teil des Fügüü.

Nachdem Goldmeises fast 8.000 Seiten starke Novelle im Herbst 1904 vom Gates Brothers Verlag in limitierter Auflage veröffentlicht worden war, wurden die ersten drei Bände bereits im April 1905 vom CIA indexiert und alle bestehenden Ausdrucke vernichtet. 1908 fand man Goldmeises Leiche angeblich im westlichen Teil der City of London. Offiziell wurde diese Angabe nie bestätigt. Bis heute sind lediglich die ersten hier abgedruckten Seite des Werkes wieder aufgetaucht. Ben Standfield, St. Louis Herald

Ben Standfield erlag zwei Stunden nach Online-Veröffentlichung der ersten Seiten des Lebenswerks „Fügüü“ von David Goldmeise den tragischen Folgen eines Treppensturzes.