Gruppe 13


Räuberpistolen für den Hausgebrauch


Angeln

von Ricarda von Heringsdorf auf dem Berge

Der Regen prasselte unaufhörlich auf das kleine Zelt, das Milka in weiser Voraussicht mitgenommen hatte. Es war ein Sonderangebot bei Decathlon gewesen und hatte seine Wassersäule schon seit zwei Stunden überschritten, so dass immer wieder forsche Tropfen das synthetische Material durchdrangen. Ihr Schlafsack war schon länger klamm und müffelte wie nasses Bisonhaar. Milka hüllte sich noch fester in ihr Softshell und pulte mit kalten Fingern das bunte Aluminium von ihrem Schokoladenosterhasen. Als er nackt vor ihr lag, tätschelte sie liebevoll über seine Ohren und verschlang ihn anschließend in einem Stück. Dann spülte sie die Schokoladenreste in ihrem Rachen mit einer Dose Ardbeg Corryvreckan aus der 247-Tankstelle an der Ausfallstraße hinter der Biegung des Flusses hinunter. Sie musste kurz an die Cheyenne denken und das schreckliche Massaker von Sand Creek 1864. Es ließ ihr keine Ruhe, auch hier nicht, weit ab von jeglichen kulturellen Ablenkungen, in der Einsamkeit der thüringischen Natur. Seit sie in Gera im Studentenklub den alten Western „Tomahawk!“ gesehen hatte, kreisten ihre Gedanken um das mörderische Verbrechen. Der Filmabend war jetzt schon siebenundzwanzig Jahre her, doch immer an Ostern brachen die Schatten der Vergangenheit in ihr ruhiges Leben ein. Sie versuchte es jedes Jahr mit neuen eskapistischen Episoden. Sie hatte in der kalten Gruft der Notre Dame Extrem-Pilates trainiert, war mit ihrem Neffen nach Split gefahren, um dort Seeigel zu jagen, und auch auf dem Mond war sie bereits gewesen. Doch die Ablenkung war stets von kurzer Dauer. Nun also wieder ein langes Wochenende, diesmal in der Heimat. Eigentlich wollte sie angeln, große Fische gab es hier zuhauf, doch ihr Kescher war gleich nach der Ankunft von einer lokalen Kinderbande als Wegzoll einbehalten worden. Die Eltern hier schienen sich nicht groß um ihren Nachwuchs zu kümmern, oder sie hatten keine Handhabe gegen soviel kriminelle Energie. Wie dem auch sei, Angeln ohne Kescher konnte sie vergessen. Nun saß sie in ihrem Zelt, hörte dem Regen zu und dachte an Sand Creek.

Pit „Pickelface“ Reifenhans lag auf seinem Bett im Kinderzimmer und starrte auf das Poster mit dem Eisbären. Armer Tropf, dachte er, bei dem ganzen Klimawandel. Tatsächlich stand das weiße mächtige Tier auf einer Eisscholle und sah sich unsicher um. Irgendwie wirkte es verloren da auf seiner Scholle, um sich herum grünlich schimmerndes Wasser. Pit hatte ein schlechtes Gewissen, weil er am Vormittag einer alleine reisenden Frau, die seine Mutter hätte sein können, ihren Kescher als Wegpfand entrissen hatte. Unter dem Gruppendruck der Jungs aus seiner Bande hatte er aber auch nicht allzu viele Optionen gehabt. Irgendwie fühlte sich das nicht richtig an. Die arme Frau erinnerte ihn an den Eisbären. Vermutlich hatte sie sich auf ein Angelwochenende gefreut, ihren Kescher vom Dachboden geholt, ihn entstaubt, Vorräte besorgt, und jetzt das. Kein Kescher, kein Fisch. Gab es eine Möglichkeit, das wiedergutzumachen?

Milka konnte nicht schlafen. Alles war feucht im Zelt. Ein Frosch begehrte schon seit einer halben Stunde Einlass, immer wieder hüpfte er gegen die Eingangstür und versuchte, mit seiner ekelhaften langen Zunge den Reißverschluss aufzuziehen. Das einzige, was ihm gelungen war, war Milka wachzuhalten. Verdammter Frosch, dachte sie. Wutentbrannt wollte sie ihm den Garaus machen, da vernahm sie ein seltsames Geräusch. Es rührte vom Fluss her. Eilig kickte sie den Frosch weg, dann schlüpfte sie in ihren Poncho und kletterte nach draußen. Es war ziemlich dunkel, der Vollmond verbarg sich hinter den dichten Regenwolken. Da war doch etwas im Busch! Oder im Fluss? Ihre Augen begannen, sich langsam an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie drehte sich, um die Taschenlampe aus dem Zelt zu holen, und fluchte, als der ekelhafte Frosch schon wieder an der Tür saß und um Einlass bettelte. Abermals kickte sie ihn fort, öffnete die Zelttür und angelte schnell ihre Taschenlampe heraus. So bewaffnet, knipste sie sie an und richtete den hellen Strahl auf das Wasser. Chrom blitzte zurück. Dort gluckerte ein alter Mercedes! Er musste ins Wasser gestürzt sein, schwamm aber halb versunken im Fluss und war offensichtlich nicht untergetaucht. Vor Schreck ließ Milka ihre Taschenlampe fallen. Sie fluchte erneut, dann suchte sie mit ihren Fingern im hohen nassen Gras nach der Leuchte, wischte erneut einen aufdringlichen Frosch zur Seite und fand die Lampe schließlich. Mit zitternden Händen richtete sie den Lichtstrahl auf das Wasser. Am Steuer der Limousine war eindeutig ein Fahrer zu erkennen. Eine aufgedunsene Wasserleiche! Sie war aufgebläht und trug einen großen indianischen Federschmuck auf dem Kopf.

Ich muss ihr den Kescher zurückbringen, durchfuhr es Pit. Er öffnete seinen Kleiderschrank mit den Aufklebern von Arminia Bielefeld, und holte den Kescher hervor. Er stopfte ihn in seinen Rucksack und schwang sich auf sein BMX. Ohne Licht sauste er die Landstraße entlang, aber er kannte den Weg auch lichtlos wie seine Westentasche. Er hatte zwar keinen Schimmer, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatte, aber er wusste, dass der Platz an der kleinen grasigen Bucht des Öfteren angelnden Matrosen und zeltenden Sechstklässlern als Nachtlager diente. Es war einfach schon immer die beste Lage gewesen, um fischen zu gehen. Tatsächlich, als er schweißüberströmt nach einer guten Viertelstunde an der Stelle ankam, sah er geübten Auges ein Zelt! Er schmiss sein BMX ins Gras und pirschte sich langsam heran. Niemand zu sehen. Es war sehr dunkel. Als er schon fast am Zelt war, trat er auf einen empörten Frosch, der gerade noch wegspringen konnte. Dämlicher Frosch! „Hallo!“ rief er, doch niemand antwortete. Das Wasser im Fluss gurgelte. Er sah hinüber, und stieß einen Schrei des Entsetzens aus! Auf dem Wasser drehte sich ein halb abgesoffener Mercedes mit einem aufgedunsenen Indianer am Steuer, und auf dem Beifahrersitz saß mit friedlich geschlossenen Augen die Frau, die er mit seiner Bande überfallen hatte. Der Kescher fiel krachend zu Boden, und Pit rannte zurück zu seinem BMX, als gelte es sein Leben.