Gruppe 13


Räuberpistolen für den Hausgebrauch


Sommerzeit

von Justus Friedmann

Eigentlich war ich nie ein großer Freund von Populärkultur, aber diesmal schien alles anders zu werden. Eigentlich war in mir immer die Vorstellung verankert, mit Ende zwanzig verheiratet zu sein, dass ich lausige Kinder meine eigenen nennen würde oder ich im Falle zweier Niederlagen oder dem Glücksfall, je nachdem wie man empfindet, meinen schweren Geldbeutel gegen Dinge tauschen würde, die Erleichterung verschaffen. „Eigentlich“ denke ich und lege eine andere Platte auf und plötzlich ist alles anders. Ich höre diesen Song aus meiner späten Jugend, von dem ich bislang ausging, er wäre ein überflüssiger Fehlkauf gewesen. Was aber wäre, wenn dieses Lied eine geheime Botschaft enthielte? Ich nehme das CD-Cover in die Hand und begutachte das Artwork: konzentrische Kreise, geometrisch angeordnete Dreiecke, grelle Neonfarben – so etwas war damals offensichtlich modern. Ich muss lächeln und streiche über den Titel der Platte. Seltsame Synthesizer-Frequenzen wabern durch mein Wohnzimmer, als ich versuche die eigenartige Schrift des Titels zu entziffern. Der Anfangsbuchstabe ist ein eigenartig geformtes “A”, welches beim näheren Hinsehen aus zwei sich umarmenden und sich an den Schnauzen berührenden Raubkatzen gebildet wird. Meine Augen wandern zum folgenden Buchstaben, als plötzlich ein sonorer Basston den Raum zerschneidet und die Bildebenen des Covers an Tiefe gewinnen, um sich vor mir im Raum zu staffeln. Zeitgleich lösen sich die Raubkatzen aus ihrer Umarmung und ich stehe vor einem Tor, die Musik dabei vergessend. Die Umrisse meines Wohnzimmers verblassen, als ich mich mit unsicherem Schritt den majestätischen Tieren in ihrer eigenartigen Pose nähere. Als ich durch das Tor hindurch gehe, ertönt ein langer, schriller Ton, der letzte Takt der Platte.

Schließlich stehe ich in einem weitläufigen, von einer massiven gläsernen Kuppel überspannten, kreisrunden Raum, in dessen Mitte eine sonderbare, kupferne Apparatur steht. Eine Weile versuche ich die Landschaft außerhalb der Kuppel zu erkennen, aber dann durchfährt es mich eiskalt: ich muss mich unbemerkt auf die glänzende Maschine zubewegt haben. Erneut erfüllt dieser besondere sonore Bass die Halle. Die Apparatur beginnt zu vibrieren und mit ihr der Boden, auf dem ich stehe. Heißer Wasserdampf entweicht der Maschine aus vielen kleinen Ventilen mit lautem Zischen. Daraufhin teilt sich die Maschine ganz unspektakulär in zwei Teile und der Inhalt wird sichtbar. Ein Schauer des Unbehagens durchfährt meinen Körper. Ich starre in die schwarzen Augen eines ungefähr einjährigen Kindes. Ich trete erschrocken einen Schritt zurück. Dann muss ich lachen.

Diese Szene kenne ich, sie stammte so aus meinem Lieblingsfilm „Das Baby mit der schwarzen Seele”, einem B-Horror-Splatter aus den frühen 90s, den ich oft im Kreis meiner Freunde gesehen hatte. Eine Frau wurde darin von einem Mann brutal und explizit vergewaltigt und anschließend getötet: Ihr Baby, ein kleines Mädchen, sah alles mit an und bekam daraufhin schwarze Augen. Später führte das Kind einen grausamen Rachezug durch die Straßen New Yorks, bei dem es mutmaßliche Vergewaltiger zuerst blendete und entmannte, um sich anschließend mit den Legionen der Hölle zu verbünden. Später habe ich den Film an der Universität unter feministischen Aspekten analysiert. Bei den universitären Diskussionen vertrat ich stets eine möglichst militante Perspektive, neben der selbst die liebe Alice verblasst wäre, was mir bei der einen oder anderen verschlossenen Kommilitonin genug Bonuspunkte verschaffte, um mein Studentenleben auch in der Horizontalen voll auszukosten. Was wohl aus ihnen geworden ist?

Plötzlich reißt mich ein stechender Schmerz in meinem linken Bein wieder zurück in das, was ich zurzeit für die Realität halte. Der Schmerz wird immer stärker und treibt mir Tränen in die Augen. Panisch taumle ich einige Schritte zurück, stoße mich an der hinter mir liegenden Wand und stürze zu Boden, während ich in meinem schwindenden Sichtfeld noch erkennen kann, wie sich das Baby mit angespitzten, hai-artigen Zähnen in meine linke Wade verbissen hat. Ich schreie auf und trete nach dem Kind, sodass es einige Meter zurückgeworfen wird. Ich blicke an mir herab und betrachte entgeistert die klaffende Fleischwunde an meinem Bein, aus der in pulsierenden Schüben mein Blut schießt. Geistesgegenwärtig ziehe ich mein Hemd aus, reiße den Ärmel ab und binde ihn fest um mein Bein. Das Baby behalte ich dabei im Blick. Ich schaue kurz aus dem Fenster. Regenwolken hängen in Fetzen vom Firmament herab und entleeren sich schließlich über den Dächern der Stadt. Ich kenne diese Stadt, ich mag sie. Ich habe hier lange gelebt und oft mit Freunden auf den Wiesen unten am Fluss Bier getrunken. Die Augen des Kindes beginnen violett zu glimmen, als es sich auf die Hinterbeine aufrichtet. Mir kommt das Gesicht erstaunlich bekannt vor: Ein alter Schulfreund oder ein früher Spielkamerad aus meiner Siedlung – nur jünger und degenerierter. Ich ertappe mich bei dem Gedanken:“ Für diese Fresse hat der Maskenbildner aber ganze Arbeit geleistet.“ Offensichtlich überfordert der massive Anstieg des Adrenalinspiegels in meinem Blut meine Zurechnungsfähigkeit. Gleichzeitig meldet sich mein Geschlechtsteil pochend bei meinem Bewusstsein.

Also speichere ich diesen Text ab, schließe die Textverarbeitung, öffne den Browser. Meine verwirrte Suche präsentiert mir ein Video, in dem sich zwei gut entwickelte Mädchen in einer Umkleidekabine ihre Sexualorgane gegenseitig stimulieren. Ich spritze ab, noch bevor der dreiminütige Clip sein Ende erreicht. Sofort fokussiert mein Geist wieder dieses mörderische Kleinkind. Zeitgleich greift mein linker Arm in die klaffende Wunde oberhalb meines linken Sprunggelenks. Sie ist genauso wenig real, wie das Mädchen, mit der ich angefangen hatte an diesem Text zu arbeiten.

Schlagartig freunde ich mich mit der Vorstellung an, dieses Kind zu adoptieren. Als ich zu dem Wesen herüberschaue, erkenne ich, wie sich auf dessen Rücken die Haut wölbt und bleiche Blasen schlägt. Kurzentschlossen verpasse dem Nachwuchs eine weitere Ohrfeige. Es fällt mit einem dumpfen Aufschlag zu Boden. Der Druck meiner Schuhsolen auf den Rücken des Kindes lassen dessen Hautekzeme effektvoll zerbersten. Ich genieße dieses orgasmische Gefühl des Druckabfalls. Erneut richtet sich der junge Körper langsam auf seine beiden Beine und dreht sich zu mir um. Die Augen sind immer noch pechschwarz, blicken aber nun verängstigt zu mir herauf. Ich erkenne endlich das Gesicht, klar und deutlich. Jetzt weiß ich woher ich dieses Gesicht kenne. Ich freue mich, endlich ein Wiedersehen nach so langer Zeit.

Wieder durchdringt dieser sonore Tiefton meine Wahrnehmung und ich finde mich am Schreibtisch wieder. „Eigentlich ein gutes Album!“ sage ich mit lauter Stimme zu mir, als wäre das Kind noch anwesend und soll mit dem Ausspruch stilistisch geprägt werden.

„Eigentlich?“ denke ich und trete auf den Balkon. Hier resümiere ich die letzten Minuten, komme aber zu keinem klaren Ergebnis. Diese kalkulierte Provokation, Post-Social-Media Poesie, pseudokünstlerischer Krawalltexte aus der Feder begabter aber erfolgloser Millennials und ein gleichförmiger Zweck-Zynismus betten mich in eine beklemmende Langeweile, aus der ich nur schwer erwachen kann. „Eigentlich gestaltet sich ehrlicher Genuss anders“, aber dafür ist es jetzt zu spät.