Gruppe 13


Räuberpistolen für den Hausgebrauch


Die Kinder aus dem Waisenhaus

von Ficky Zwölf

Göbel biss ein weiteres Stück aus seinem immer noch halbrohen Arm. Er hatte ihn zwischen den Überresten seines Segelflugzeugs gefunden. Vermutlich hatte er seit Tagen nichts gegessen und so verleitete ihn der frische Bratengeruch zum voreiligen Verzehr des abgetrennten Gliedmaßes. Göbel grunzte ein kleines Lachen raus während er gierig an seiner ehemals linken Elle nagte. Gar nicht mal so schlecht. Eben war er noch ziemlich betrübt über den Verlust seines Armes und jetzt rettete ihm die schwere Verletzung vermutlich das Leben. Der Gedanke amüsierte ihn. Glück im Unglück - lol.

Göbel war Tags zuvor, so vermutete er, vom Flughafen Köln/Bonn gestartet und befand sich bereits nach kurzer Zeit in den Klauen eines Orkans. Er konsumierte aus Prinzip keine Nachrichten. Danach ließ ihn seine Erinnerung für eine Weile im Stich. Als er des Morgens mit reichlich Kopfschmerzen und einem Stechen oberhalb des linken Ellenbogens aufgewacht war, fand er sich einarmig am Boden eines finsteren Waldstücks wieder. Es war karg und steinig, dunkel und trostlos. Mittelgebirge. Eifel oder Hunsrück. Niemandsland. Tot. Scheiße.

Der Wind sang mit kalter Stimme um die kahlen Kiefernstämme und machte keinen Hehl daraus, dass er Göbel nach dem Leben trachtete. Tieraugen blitzten hämisch zwischen Büschen und Steinen hervor. Es war als wartete der Wald nur darauf, dass Göbel alle Dreie von sich streckte und sich seinem Schicksal ergab. Doch Göbel hatte andere Pläne. Mit der Kraft seiner Gedanken erhitzte er den Akku seines Telefons und kauterisierte seinen blutigen Stumpf. Die brennenden Resten seines Telefons warf er zwischen ein paar Äste und entfachte ein kleines Lagerfeuer. Beim Holzsammeln fand er seinen Arm und ein paar Pilze. Letztere spie er kurz nach dem Verzehr wieder aus.

Müßig las er tausende Haselnüsse vom Boden auf und stapelte sie vorsichtig übereinander bis er sich einen gewölbeartigen Unterschlupf geschaffen hatte. Er stellte sich vor wie er hier viele Jahre verweilen würde. Wie er eventuell eine junge Bärendame kennenlernen würde und mit ihr zahlreiche Kinder hat. Er schreckte aus seiner Tagträumerei auf als seine Erinnerung ihn wie hundert kleine Fäuste auf einmal in den Unterleib traf. Die Kinder im Waisenhaus!

Fiete, Olgart und der kleine Bruno. Sie alle warteten auf die Lebensmittel, die er jeden Mittwoch über dem Gelände der ehemaligen Hundekaserne abwarf. Ohje, es war vermutlich schon Sonntag!

Das Adrenalin, das in seine Augen schoss verlieh ihm neuen Antrieb. Er leckte seinen Daumen an und hielt ihn selbstbewusst in die Luft um die Windrichtung zu erfühlen. In Kombination mit der Wetterseite der Bäume war es ihm so möglich seinen Standort bis auf wenige Meter genau zu bestimmen. Er brach in die nächste Ortschaft auf, die nur wenige Kilometer entfernt war. Die dort erhoffte Hilfe wurde ihm von den Eingeborenen verwehrt, welche ihn wegen seiner fremdländischen Erscheinung (nur ein Arm) erzürnt, in einer wilden Gurgelsprache schreiend aus dem Dorf trieben. Auf seiner Flucht stahl er das Auto (Automatik) des Ortsvorstands und war bereits zwei Stunden später am Waisenhaus angekommen.

Auf den letzten Metern massierte sich ein ungutes Gefühl ungefragt in Göbels Rücken, in dem sich während der Fahrt bereits ein Blumenstrauß unguter Gefühle zusammengekrampft hatte. Zögerlich schritt er durch das Tor in den Vorgarten des Waisenhauses. Eine Krähe hustete vorlaut vom Dach zu ihm herunter. Durch eine kleine, dunkle Gasse fand er seinen Weg zum Innenhof des Gebäudes. Wieder spürte er den vermeintlichen Spott der Tierwelt im Nacken. Kicherte da jemand? Der Hof war leer bis auf einen Haufen alter Wollbälle. Als er genauer hinschaute rangen plötzlich Terror und Wahnsinn um seinen Geist. Er hielt sich ein Auge zu. Das war kein Haufen alter Wollbälle! Es waren die Überreste von Fiete, Olgart und dem kleinen Bruno! Vom Hunger getrieben hatten sich die Kindern offenbar gegenseitig bis zum Hals aufgefressen. So ein Ärger!

Empört und emotional aufgewühlt wandte sich Göbel von dem grausigen Fund ab. Für ihn stand fest: ein Segelflugzeug würde er so schnell nicht wieder fliegen.

“Mein Patient verwechselt häufig Casein und Phencyclidin.” Hausarzt

“Eiweissshake!”
Justin-Rolf Colt