Gruppe 13


Räuberpistolen für den Hausgebrauch


Die Lesung

von Gundolf Bresenz

Manjun hatte seine Mutter mitgebracht zur Lesung. In der Zeitung hatte er davon gelesen. Man könnte auch sagen, er hätte es aus der Zeitung erfahren, was genauso richtig wäre. Nun saß er aufgekratzt in der ersten Reihe und hielt mit seiner Mutter Händchen. Nach seiner Uhr waren es noch 12,5 Minuten, bis die Lesung begänge. Was ein Tag!
Er wippte auf seinem Stuhl hin und her, sah sich im Saal um, der allerdings recht schlecht besucht war. Es waren nur wenige ältere Herrschaften anwesend, und die meisten von ihnen schienen eher wegen der Kostenlosigkeit der Veranstaltung und dem gratis Sekt-Orange angereist zu sein. Aber umso weniger andere Besucher, umso besser für ihn, so konnte er hinterher sicher das ein oder andere Signet in das ein oder andere Werk des Autors setzen lassen und vielleicht, wenn alles gut ging, sogar ein Foto mit dem Autor ergattern. Ein Zellfie oder seine Mutter würde eines machen. Aber ob die Olle das hinkrägte? Sie war ja dumm wie ein Olivenbaum. Lieber doch ein Zellfie!
Manjun blickte in die mitgebrachte, geöffnete Sporttasche, in der die Werke des Autors fein säuberlich in dünnen Plastikumhüllungen verpackt waren. Er lächelte. Plötzlich bewegte sich der dicke schwarze Vorhang, der den vorderen Teil der Bühne vom hinteren Teil trennte, und ein dicker roter Kopf streckte sich ins Scheinwerferlicht. Der Kopf kniff die Augen zusammen, zog dann einen fetten Hals, sowie einen noch fetteren Menschenleib hinter sich her und ging an’s Mikrofon. Das war aber nicht der Autor. Sicher sowas wie ein Ankündiger, dachte Manjun. Und er sollte Recht behalten.
„Liebe Gäste“ sagte der Fettkopf-Alkoholiker „es ist gleich soweit. Der Mann, auf den sie alle gewartet haben ist gleich hier hinter mir, im Backstage. Der dicke Mann hustete und verbeugte sich. Weil keiner im Saal klatschte, fing er selbst damit an und schrie dann lauthals: „Hier! Ist! Er! Gundolf…“ Er wartete, dass das Publikum ihm antworten würde, aber keiner der Anwesenden regte sich. Da ließ Manjun die Hand seiner Mutter los, sprang auf und schrie „Bresenz! Gundolf Bresenz!“ und stampfte mit dem rechten Fuß auf dem Boden auf. Der dicke Mann streckte den Arm aus, zeigte mit den Finger auf Manjun, kniff ein Auge zusammen und sagte cool mit amerikanischem Akzent: „Yeaaaaa! You know the name. You know the game.“
Stolz setzte Manjun sich wieder auf seinen Stuhl und blickte sich Beifall heischend zu den übrigen Gästen um. Dann war es soweit. Der Autor betrat die Bühne. Manjun kannte bisher nur das Gesicht des Gundolf Bresenz, denn in der Buchklappe des Werks „Prestige, Ratio und Vanillje – eine Reise an den Rand der Genialität“ hatte sich der Autor in einer kleinen Schwarz-Weiss Fotografie ablichten lassen.
Aber jetzt stand er tatsächlich auf der Bühne. Er trug einen schicken schwarzen Anzug, hatte ein Stück Schoko-Nikolaus im Mundwinkel hängen und sah sehr mitgenommen aus. Der Anschein dieser Zerstörtheit wurde gleich auch noch bestätigt, als der Autor beim ersten Schritt auf der Bühne stolperte und der länge nach hinfiel. Nach zahlreichen „Au! Aua, Au weiha“ Rufen rappelte er sich schließlich auf und robbte sich zu seinem Stuhl, auf dem schon ein aufgeschlagenes Buch lag.
„Soll ich jetzt lesen?“ fragte der gepeinigte Literat in die Runde der Zuschauer und rieb sich sein Bein.
„Ja! Ja! Lesen!“ Manjun sprang wieder auf und bewegte sein Becken, als würde er kopulieren, ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und schlug seiner Mutter aus Überschwang mit der flachen Hand auf ihre fetten Oberschenkel, dass es nur so klatschte. Die Mutter schrie auf, aber Manjung ignorierte sie. Denn jetzt streckte der Autor auf der Bühne den Kopf ganz dicht ins Buch, legte seinen Zeigefinger zwischen die Zeilen und begann zu lesen.

Manjun war in einer Traumwelt. Die Lesung dauerte erst fünf Minuten und er war gar völlig und vollkommen eins geworden mit der Geschichte. Es ging um einen Pinguin, der als Investment-Banker Karriere macht und dann seine Frau in Shanghai von einer Brücke schmeißt, weil er sie mit seiner Zigarette verwechselt hatte (dabei war er Nichtraucher). Es war so spannend, so packend, so extraordinär. Dazu die Stimme des Autors persönlich. Ein Fest für die Seele und den Geldbeutel. Doch dann, mehr oder weniger plötzlich, war alles vorbei. Der Autor schlug das Buch zu, guckte mit zusammengekniffenen Augen ins Publikum und konstantierte: „Noch irgendwelche Fragen? Sonst geh ich jetzt nämlich.“ Ohne eine Antwort abzuwarten stand er auf und drehte sich Richtung Backstage. Bestimmt warteten dort schon Groupies auf ihn. Das würde auch die dicke Beule in des Autors Hose erklären, die Manjun jetzt sah. So ein Schwein! Statt sich um seine echten Fans zu kümmern, wollte der Autor hier den schnellen Reibach machen und dann ficky ficky…
Manjun schrie: „Halt! Stopp! Herr Bresenz!“
Der Autor unterbrach seinen Gang, sah sich zum Publikum um und fragte verächtlich: „Was denn?“ ​ Manjun bebte vor Wut und schmiss dem Autor einen wuchtigen Satz auf die Stirn: „Sie! Haben! …“
Er machte eine etwa zweiminütige Atempause, denn ihm fiel nicht mehr ein, was er sagen wollte. Dann überspielte er lässig die Situation, indem er sich noch einen Sekt Orange einschänken ließ und der Bardame auf die Titten glotzte. Schließlich setzte er seinen Satz fort (der Autor auf der Bühne hatte ausgeharrt, als wäre er eingefroren).
„Sie haben zu kurz gesprochen. Sie sind lesefaul.“
Jetzt brach der Autor auf der Bühne in Tränen aus: „Ich bin das jüngste von acht Kindern. Ich hatte keine leichte Jugend. Sogar im Gefängnis war ich mal. Ich habe Schuppen. Ich wohne in einem Schuppen. Ich habe Schnupfen… Hatschi!“ nieste der Autor gespielt.
Manjun schossen die Tränen in die Augen. Augenblicklich katapultierte der Respekt vor der Leistung des Autors wieder nach oben, auf ein noch nie dagewesenes Niveau. Manjun ließ den Kopf sinken, führte seine Mutter schweigend aus dem Raum, ging nach Hause und las noch einmal alle Werke des Autors in chronologischer Reihenfolge. Er war unwürdig. Aber zum ersten Mal in seinem Leben war er auch wirklich glücklich.

So viele Buchstaben! War das nicht teuer?
Nachbar von Gundolf Bresenz, 2.OG links

Als (Literat) weiß ich, dass (es) nicht einfach ist, über sich selbst (zu) schreiben. Gundolf Bresenz hat dies gemeistert. Ihm gebührt mein tiefster Speck.
Dicker anderer Autor