Gruppe 13


Räuberpistolen für den Hausgebrauch


Sternschnuppen-Dämmerung

von Fjóðórur Rágnárson

Ich lag auf dem abgeschrubbten Rücken einer alten Gazelle und starrte in den safranfarbenen Himmel. Eine Sternschnuppe bewegte sich langsam auf mich zu. In der Ferne hörte ich das Kriegsgeschrei eines ungarisch dahin brabbelnden Stammes versprengter Wikinger, unterlegt vom aufdringlichen Geklimper eines verstimmten alten Klaviers. Die Sternschnuppe kam näher und näher. Ich erkannte den Schemen eines Ochsenfrosches im Gegenlicht. Bullig saß er auf der Sternschnuppe und lenkte sie stoisch in meine Richtung. Langsam machte ich mir Sorgen.
Träge blinzelte ich nach links und sah aus meinem halb geöffneten Schlupflid den kleinen Mexikaner auf seiner eigenen Gazelle in den Himmel starren. „Ay, dios mío!“ kommentierte er eher trocken als erstaunt, als er meinen Blick auf sich ruhen fühlte. Ich verlagerte mein Gewicht seitwärts und rutschte auf den staubigen Boden. Aus meinem abgewetzten Seesack kramte ich eine ausgelaufene Nickel-Cadmium-Batterie hervor und saugte daran. Das Oxidhydroxid tat mir gut. Eine wohlige Wärme breitete sich in meiner Nierengegend aus. So gestärkt, überlegte ich, was zu tun sei. Mehrere Szenarien breiteten sich vor mir aus, drei davon schienen am wahrscheinlichsten: die Sternschnuppe könnte in einer Supernova direkt über unseren Köpfen explodieren, ein schwarzes Loch erzeugen und uns in Antimaterie aufspalten. Oder der Ochsenfrosch würde, sobald er nahe genug an uns herangekommen wäre, plötzlich sein Maul öffnen und eine riesige rosafarbene Zunge würde schnalzend unsere Köpfe vom Körper trennen, ehe wir „B“ sagen konnten. Oder die Sternschnuppe würde sich in eine riesige Amöbe verwandeln, die uns mit einem Happs verschlucken würde, ohne dass wir es merken würden.

Am deprimierendsten bei diesen Gedankenspielen erschien mir, dass jedes dieser Szenarien mit Tod verbunden war. Immerhin wollte ich die geringe Chance nicht ausschließen, dass es doch noch ein weiteres Szenario geben würde, welches uns am Leben lassen würde. Ich wusste, dies war zutiefst unwahrscheinlich.
„Dios mío!“ ächzte der Mexikaner, und ich ging vermutlich nicht fehl in der Annahme, dass auch er diese Szenarien in seinem Kopf durchspielte.
Mein Leben zischte an mir vorüber. Ich sah Erdbeermarmelade im Haar meiner Schwester, einen zornentbrannten Zebrastreifen in heißem Disput mit einer pazifistischen Transsexuellen aus Idaho. Speckstreifen und grüne Bohnen beim Poledancing in einer Eckkneipe, wo die Molle noch eine Molle war. Kot auf dem Flügel, der mir das Klavierspiel beigebracht hatte. Einen Schlips, abgeschnitten an Weiberfastnacht 1976 auf dem Rathausplatz in Hannoversch Münden. Meine damalige Geliebte auf dem Weg zum Zahnarzt, nachdem ich ihr mit dem Bagger alle vier Weisheitszähne zu ziehen versucht hatte, vergebens. Alte Schulfreunde mit pausbäckigem Gesicht, einen roten Apfel in der einen Hand und atomwaffenfähiges Uran in der anderen, bereit zum Tausch mit einem Kakao in der großen Pause. Zerkochtes Gemüse in den Händen hilfloser Paviane, die nichts damit anzufangen wussten und später Hungers starben. Es war meine Schuld.

Mein Leben rann an meinem inneren Auge vorbei wie ein humpelnder Elefant. Grobschlächtige Massenszenen wechselten sich rasch ab mit filigran geschnitzten Miniaturen. Ich saß auf dem Rücken meiner Mutter und leckte an einer Stange Wassereis mit Stachelbeeraroma. In der Küche der griechischen Rossbraterei zerhackte ich Pferdeköpfe zu Frikassee und hörte Skrjabin-Sonaten aus einem scheppernden Radio. Fünfundfünfzig Zwerge hatten mich an eine überdimensionierte gelbe Rübe gefesselt und piesackten mich, indem sie mir im Vorüberlaufen eine Kostprobe ihres übelriechenden Mundgeruchs gaben – ein Gemisch aus Zwiebel, Kohlrabisuppe und vermodertem Flieder mit einem Hauch von synthetischem Lindenblütenhonig.
Ich pulte Dreckpfropfen aus den Ohren eines verlotterten Straßenköters und schnippste sie in den träge dahinfließenden Fluss. Ein slowakisches Mädchen mit Ringelblumensalbenflecken auf dem Kinn beugte sich zu mir herunter und küsste mich sanft auf die Nasenspitze. Ein Schweißtropfen rann meine Brust herunter, bahnte sich mühsam den Weg durch meine Brustbehaarung und sammelte sich in meinem Bauchnabel, aus dem sich ein unendlicher Strom aus Sirup ergoß. Lachse schwammen stromaufwärts dagegen an und hüpften dann und wann aus Sirup, durchbrachen die Oberfläche in verspielter Leichtigkeit, als sei es nur Wasser.
Meine Hirnzellen erstarben, eine nach der anderen. Das Wohnmobil, welches ich von meinem ersparten Söldnerlohn aus der Blauhelmmission im Busch von Neufundland gekauft hatte, tuckerte durch die unbewohnte Einöde der ostsibirischen Tundra. Ich hatte Perlen aus Dosenfisch geflochten und verkaufte sie an fettleibige Touristen am Strand von Luskentyre, weit draußen auf den Äußeren Hebriden. Kalt, aber schmerzlos durchschnitt das Skalpell meine Bauchdecke. Ich reckte die Trophäe in die Luft und das Stadion jubelte mir zu. Am Zenit meiner Karriere zog ich ein letztes Mal an der Pfeife und hauchte kurz darauf zufrieden mein Leben aus.

Ein Zebra nahm mich an die Hand und führte mich über die Straße. Es hatte ein Henkerbeil im linken Huf, welches leise über den Asphalt kratzte, wie eine Gabel, die man über einen blechernen Teller zieht. Als wir die andere Seite erreicht hatten, setzte es sich auf alle Hinterhufe und sah mich lange schweigend an. Mit einem traurigen Blick schüttelte es langsam den Kopf, wandte sich um und ließ mich alleine zurück. Eine Limousine in mattgrün rollte heran.
Leise hielt sie am Straßenrand, kaum zehn Schritt von mir entfernt. Ich stand teilnahmslos an der Leitplanke, an welcher das Zebra mich hinterlassen hatte, und verfolgte das Geschehen. Die Tür des Fahrers ging auf, ein kleinwüchsiger Asiate sprang heraus, ging um die Motorhaube herum und öffnete die hintere Tür. Zwei feine Schuhe aus italienischer Fabrikation setzten sich elegant auf den Boden und ein korpulenter Mann fädelte sich erstaunlich behände aus dem Auto. Er trug eine Sonnenbrille, einen Zylinder, einen perfekt sitzenden Anzug, eine silberne Krawatte und ein kleines Täfelchen.
Interessiert blickte er sich um, fingerte dann ein Stückchen Kreide aus seiner Brusttasche und fing an, eine Formel auf dem Täfelchen zu notieren. Ich konnte es auf die Entfernung nicht genau erkennen, doch meinte ich, mit einiger Sicherheit sagen zu können, dass es sich um eine Formel handelte. Dann reckte der Mann seine Nase in die Luft, holte einen Schwamm aus der Hosentasche, spuckte einmal darauf und begann, seine Formel wieder wegzuwischen, nein, nur einen Teil davon. Er korrigierte etwas, besah es sich noch einmal und nickte dann zufrieden. Dann übergab er das Täfelchen seinem Chauffeur, wedelte ein wenig Kreidestaub von seinem Anzug und hievte sich wieder in das Auto.
Der Asiate verpackte das Täfelchen sorgsam in altes Zeitungspapier, blickte sich um, und verstaute es im Kofferraum. Dann sprang er ins Auto, startete den Motor, und gemächlich glitt die Limousine von dannen, ohne von mir auch nur die geringste Notiz zu nehmen. Ich blickte ihnen hinterher und wunderte mich über das seltsame Verhalten des Fahrgastes.

Fortgesetzt in Teil 2.