Die Geschichte von Kerstin Botz
von Bello Jansen
Kerstins Erektion fiel in sich zusammen wie einst seine Träume. Masturbation war Kerstins aktuellster und kühnster Coup, um sich die Langeweile auf der Arbeit zu vertreiben. Doch mit der Lust war es schnell vorbei, als sein Chef Mr. Borkenkopf durch die Bürotür knallte und sich mit kornschwerer Stimme nach Kerstins Befinden erkundigte. „Alles gut, Chef. Ich komm’ hier gut voran“, erwiderte Kerstin wie immer mit der Selbstsicherheit eines stimmbrüchigen Teenagers. Selbstverständlich war das gelogen, denn Kerstin Botz hasste seinen Beruf. Vor zwei Jahren, bei der Beerdigung seiner Mutter, glitt einem Sargträger die befüllte Totenlade aus den Händen und brach Kerstin beide Beine. Er hatte bis dahin, zusammen mit seiner Mutter, eine Karriere als Tänzer für barockes Ballett vorbereitet. Doch nach dem Unfall hatten die Ärzte nur ein mitleidiges Kopfschütteln für Kerstin übrig gehabt. Der doppelte Schicksalsschlag setzte der bis ins Detail geplanten Zukunft des damals 40jährigen ein jähes Ende. Nach einer anderthalbjährigen Umschulung landete Kerstin im Halberstädter Schraubenmuseum. Hier war er seit sechs Monaten für die Dokumentation antiker Schrauben verantwortlich. Eine Aufgabe, die seine Selbstachtung mit jedem Tag weiter sinken ließ.
Neben Kerstin und Mr. Borkenkopf, dem Museumsleiter, arbeiteten noch zwei weitere Angestellte im Schraubenmuseum. Die kesse Fifi, eine Geschichtsstudentin von geringem Wert, saß an der Rezeption, um ahnungslosen Schraubenfans von ihren Weltrettungsplänen zu erzählen. Kerstin hatte sich einmal gewagt anzumerken, dass der Welt vielleicht mehr geholfen sei, wenn sie die zwei Flüge im Jahr nach Südostasien vermeiden würde statt den Thailändern mit Rezepten für selbstgemachtes Biowaschmittel auf den Sack zu gehen. Fifi leugnete seitdem seine Existenz. Dann war da noch Alf, auch Alf der Graue genannt. Der traurigste Typ den Kerstin je kennengelernt hatte, und einer der regelmäßig dafür sorgte, dass jeder der sich von ihm durch das Museum führen ließ, unerklärlich betroffen nach Hause ging. Kerstin hatte für alle drei wenig übrig.
Eines grauen Sommermorgens kam er in sein Büro, um seinen Chef mal wieder entkleidet und bewusstlose in einer Lache aus Lupinenjoghurt und seltenen Schrauben vorzufinden. Alf stand neben ihm und blickte traurig drein. Fifi kam dazu und sagte, „Hallo,…“ „Halt’s Maaaaauuuuuul!“, brach es aus Kerstin heraus. „Ich hab keinen Bock mehr auf diese Scheiße. Ich will auf die Bühne! Wer kommt mit?“
Zu Kerstins Überraschung kamen alle mit. Sie gründeten die Heavy-Rock-
Band „Bam!-Factory“ und begaben sich auf Welttournee. Am 4. Juli
spielten sie ihren erstes Konzert in Athen. Mr. Borkenkopf legte ein
solides Fundament mit seiner elektrisch verstärkten Bassgitarre. Alf
breitete darüber einen traurigen Klangteppich melancholischer
Keyboard-Sounds aus und Fifi führte alles mit einem aggressiv
angestrengtem 4⁄4-Takt auf dem Kinderschlagzeug zusammen. Nach fünf
langen Minuten setzte Kerstin mit seiner Gitarre in den Song „Bügelsau“
ein. In ihrer Hast hatte die Band versäumt Texte zu schreiben, deswegen
wechselten sich Fifi und Alf mit Husten, bzw. schwermütigen Seufzern am
Mikrofon ab. Das Konzert lief gut und trotzdem fühlte Kerstin sich nicht
wohl. Die Scheinwerfer brannten auf Kerstins Haut und der Schweiß in
seinen Augen. Er hatte alles erreicht. Vom Schraubenmuseum auf die
internationale Show-Bühne. Warum konnte er nicht zufrieden sein? Wieso
fühlte er sich so leer?
„Tanze!“, hauchte eine Stimme in Kerstins Ohr.
Kerstin schaute sich verwirrt um, doch niemand stand nah genug, um ihm
ins Ohr zu flüstern.
„Tanze!“, hauchte es erneut. Kerstin wurde nervös
und verspielte sich sogar, was niemandem auffiel.
„Tanze!“, und plötzlich verstand Kerstin.
Er schleuderte die Gitarre unachtsam ins Publikum, ignorierte die
wütenden Schmerzensschreie, riss sich die Jeans von der Hüfte und begann
wild zu tanzen. Ein Raunen ging durch die Menge. Die restliche Band
guckte sich verdutzt an, zuckte mit den Schultern und spielte mit
routinierter Gelassenheit weiter. Kerstin drehte Pirouetten als wollte
er den Bühnenboden festschrauben, er sauste durch die Luft wie ein
Albatros, machte Saltos, landete im Spagat und begann wieder von vorne.
Die Stimmung des erstaunten Publikums wechselte von milder Irritation zu
purer Begeisterung. Die Fans feuerten Kerstin an. Doch es war zu schön
um wahr zu sein, und Kerstin spürte bereits, wie ihm der Schmerz in die
Beine zog. Von außen wurde das Schaben und Knacken seiner schief
verwachsenen Knochen von der Musik übertönt, doch Kerstin selbst nahm es wahr
wie ein Donnergrollen auf hoher See, gefolgt vom beunruhigenden Knacken
alter Schiffsplanken. Er fühlte, wie sich Panik in ihm breit machte.
„Tanze!“ Da war sie wieder, diese Stimme. Die Zeit schien sich zu
verlangsamen und blieb für einen Moment ganz stehen. „Tanze, mein Sohn!“
„Mutter?!“, fragte Kerstin „Kerstin,“ sprach seine Mutter mit
vorwurfsvoller Stimme aus dem Jenseits, „du warst nie ganz so wie ich es
mir gewünscht hatte, und manchmal bezweifle ich, dass du wirklich meins
bist, aber ich habe immer daran geglaubt, dass du meine Träume, die mir
wegen der frühen Schwangerschaft verwehrt blieben, erfüllen würdest. Ich
weiß, du hast Angst, aber dir ging es eh nie besonders gut und
vielleicht kannst du auch einfach mal etwas für mich tun?“
Die Zeit floss weiter und Kerstin tanzte wie besessen. Die Leute
rasteten aus. Er wirbelte über die Bühne wie ein Pflock junger Spechte.
Er erstrahlte und sandte pulsierende Wellen knisternder Sexualität aus.
Er war eins mit sich und der Welt.
Dann gaben Kerstins Beine endlich nach und explodierten auf dem Höhepunkt seiner Ekstase. Das Publikum wurde in einer Fontäne aus Blut gebadet, und Knochensplitter bohrten sich in die berauschten Gesichter der johlenden Menge, was sie nur noch mehr anzustacheln schien. In der Mitte aß jemand einen lebendigen Tiger. Kerstins beinloser Körper stand aufrecht auf der Bühne. Er warf einen letzten Blick in die Gesichter seiner treuen Bandmitglieder. Fifi übergab sich und Mr. Borkenkopf gab ihm einen Daumen hoch. Alfs Wange ran eine Träne hinunter. Er lächelte. „Du hast es geschafft, Tiger. Geh nach Hause!“, seufzte er Kerstin hinterher, bevor dessen restlicher Körper explodierte.
„Jansen? Nie gehört.“ – Peer Steinbrück, SPD