Gruppe 13


Räuberpistolen für den Hausgebrauch


Der Aserbaidschaner

von Violet P. Räisänen

Die Nacht brach früh herein. Die Lichter der großen Stadt waren allerdings schon seit dem frühen Morgen angeknipst, so trübe und dunkel war der Tag. Schmutziger Schnee wurde durch die vorbeifahrenden Automobile von der Straße auf den Gehsteig geschleudert, von wo aus ihn die Passanten wieder auf die Straße kickten. Es war so frostig geworden, dass der Schnee sich langsam zum Problem ausweitete, er wollte einfach nicht schmelzen, und er verstopfte die Straßen und die Gassen, die Hauseingänge und die Toreinfahrten, die Gullis und die Abflussrohre.
Bruschwitz stieß mit seinem linken Fuß in einen Schneeberg und fluchte, als er sich die Zehen an den gefrorenen Eisblöcken stieß. Ein kleiner Hund mit fusseligem Haar presste mühsam eine Wurst direkt vor ihn hin. Er betrachtete sie, dachte kurz darüber nach, und zog seinen Mantel enger. Dann blickte er auf und ging die Allee weiter hinab. Eine gelbe, rostige, verlotterte Tram kroch knirschend von links heran und ächzte, als würde sie jeden Moment tot von der Schiene fallen. Wie ein lepröses Insekt zog sie sich schnaufend auf dem Mittelstreifen der Allee entlang, hoffend, dass sie die nächste Haltestelle noch möglichst in einem Stück erreichen würde. Die Ampel an der Ecke zum Domplatz sprang auf Rot.
Ein schäbiger kleiner Lieferwagen rumpelte um die Ecke und schleuderte eine gehörige Portion matschigen Schnees an Bruschwitzens Mantel. Diesen schien es nicht groß zu bekümmern, so wie er da stand und mit hochgezogenem Kragen den Verkehr beobachtete. Als die Ampel umschaltete, setzte er seinen Weg fort und stapfte geradewegs auf die Kathedrale zu, deren Hauptportal er verschlossen vorfand. Mit seinen zugekniffenen Augen erspähte er einen links gelegenen Seiteneingang, und dessen Pforte war offen.

In der Kirche war es dunkel. Der Lärm der Stadt war schlagartig verebbt und drang nur noch wie eine ferne Erinnerung an seine Ohren. Bruschwitz ließ seinen Blick über den Raum schweifen. Das Fresko an der Decke war berühmt, Touristen wurden jeden Tag aus Bussen geworfen, um die Deckenmalerei tausendfach zu fotografieren. Sie stammte aus dem 16. Jahrhundert und zeigte diverse alttestamentarische Szenen in zweifelsohne hervorragender technischer Ausführung; im Seitenschiff brannten vereinzelt Kerzen.
Der Hochaltar war vergleichsweise spärlich dekoriert und versprühte einen kühlen Charme. Heute waren deutlich weniger Touristen zu erkennen, nur eine Hand voll Personen hielt sich überhaupt in der Kirche auf. Bruschwitz ging langsam nach vorne. Keiner der Besucher schien von ihm Notiz zu nehmen. Sie waren vertieft ins stille Gebet, beugten sich über Reiseführer, oder schossen mit verkniffenen Augen ein Selfie vor Jesus am Kreuze. Am zweiten Beichtstuhl zog er den Vorhang auf und setzte sich hinein.

Im „Smaragdfarbenen Schuh” gab es wie jeden Abend Musik.
Die Kapelle spielte wie vom Teufel besessen. Der Pianist haute in die Tasten, dass es nur so schepperte, der Mann am Tenorsaxophon blies die pentatonischen Tonleitern rauf und runter, und die blonde Hässlichkeit am Bass zupfte in lustigem Sauseschritt einen synkopierten Rhythmus. Die Luft war schwanger von Tabakdunst und dem Geruch von schalem Bier.
Hruzik gab einen missgünstigen Laut von sich und schleppte sich Richtung Theke. Spitze Frauenschuhe stakten ihn ins Schienbein, ein wilder Tänzer schlug seinen Ellenbogen in Hruziks Rippenfell. Leise fluchend stieß er mit seiner flachen Hand gegen die Brust des Tänzers, woraufhin dieser der Länge nach aufs Parkett polterte. Das Publikum nahm davon keine Notiz.
An der Theke bohrte Hruzik einem kleinen betrunkenen Männlein seinen Zeigefinger in die Nierengegend, ein bewährtes Mittel, um sich schnell einen freien Stuhl zu besorgen.
Das Männlein kiekste kurz auf und sank darnieder, Hruzik seufzte länglich und sank in den nun frei gewordenen Barhocker, ließ seine Hände auf den Tresen fallen, und dann dachte er nach. Wieso hatte der pockennarbige Aserbaidschaner eine Schuhschachtel voller eingelegter Artischocken im Park vergraben? Für wen war die Lieferung bestimmt? Von wem hatte er sie erhalten? Hruzik hatte bereits sämtliche Gemüsehändler im Viertel einer eingehenden Befragung unterzogen, aber Antworten waren ausgeblieben. Manche handelten gar nicht mit Artischocken, andere konnten nichts Erhellendes beitragen. Der Händler an der Ecke zum Spielzeugladen schien zuerst eine heiße Spur zu sein, doch stellte sich schnell heraus, dass er nichts mit der Sache zu tun haben konnte. Hruzik musste noch in mindestens einer anderen Richtung ermitteln, wenn er weiterkommen wollte. Immerhin wusste er nun einiges über den Bewegungsradius des Aserbaidschaners. Er wusste, wo er morgens sein Leberwurstbrot verspeiste, wo er mittags seine Sportzeitschrift kaufte, wo er abends seinen Cognac trank. Und wenn nichts dazwischen gekommen war, würde er heute Abend auch hier sein. „Was darf’s sein?” Jäh wurde er vom Barkeeper aus seinen ziellos umhermäandernden Überlegungen gerissen.
Hruzik brauchte einen Moment, dann stieß er ein heiseres „doppelter Rye!” hervor. Langsam ließ er seinen Blick über das Interieur gleiten. Braun getäfeltes Holz verkleidete die Wände bis zur Decke, kleine Ziselierungen waren an den Balken angebracht, die hier und da die Decke stützten. Zahlreiche Kerben zeugten von Schlägerei und Ausschweifung. Die kleine Bühne hatte unzählige Musiker kommen und gehen gesehen. Flecken an den seitlichen Vorhängen und auf dem Boden warfen lebendige Schatten der Vergnügung.

Der Beichtstuhl war nicht groß, aber Bruschwitz passte gerade so hinein. Er schloss die Tür mit einem leisen Quietschgeräusch und legte den Hut in seinen Schoß. Er räusperte sich.
„Du schlägst alle meine Feinde auf den Backen…”, flüsterte er.
„…und zerschmetterst der Gottlosen Zähne”, kam es leise hinter dem Fensterlein hervor.
„Morgen, 22 Uhr, Smaragfarbener Schuh. Seien Sie pünktlich.”
Bruschwitz nickte, nahm seinen Hut in die linke Hand und öffnete die Tür des Beichtstuhls. Dann marschierte er langsam den Gang des Kirchenschiffs hinunter, bekreuzigte sich und trat in die schmuddelige Nacht hinaus.

Die Uhr rückte voran. Hruzik hatte gerade seinen dritten Rye in sich hineingeschüttet, als die Band ihren letzten Tusch spielte und in einem Zustand völliger Erschöpfung ihre Instrumente einpackte. Kaum waren sie abgetreten, betrat ein beleibter Bandoneonspieler die Bühne. Er trug einen weißen, eleganten Hut und eine dunkelrote Weste. Dicke Augenringe betonten seinen traurigen Blick. Seiner Leibesfülle zum Trotz bewegte er sich leichten Fußes auf den bereitgestellten Holzstuhl in der Mitte der Bühne, ließ sich hineingleiten und legte seinen Kopf auf das Bandoneon. Niemand schien von ihm Notiz zu nehmen. Minuten verstrichen, während er reglos so verharrte.
Dann hob er seinen Kopf, schaute in den Saal, seufzte einmal tief, und begann zu spielen. Ein Ton voll klagender Sehnsucht entkroch dem Instrument. Schlagartig wurde es still. Selbst Hruzik, sonst gesegnet mit einer atemberaubenden Gefühllosigkeit gegenüber Musik aller Art, spürte, dass dies ein besonderer Moment war. Es war der Beginn der Tangostunde. Der Bandoneonist spielte weiter, eine vergessene Melodie aus seiner Heimat Uruguay. Nach einigen Takten ging ein Raunen durch die Menge. Wie aus dem Nichts schwang sich ein Tänzer mit schwarzem Pferdeschwanz durch die Reihen, bat eine Brünette im Jeansrock um den ersten Tango des Abends. Ihre drei Begleiterinnen kollabierten sofort. Hruzik rieb sich die müden Augen. Es war der Aserbaidschaner, und er trug eine Artischocke im Haar.
Den Whisky verfluchend, versuchte Hruzik sich zu konzentrieren, was ihm jedoch nur bedingt gelang. Da tanzte das Objekt seiner wochenlangen Ermittlungen kaum einen Meter von ihm entfernt, und er hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen! Der Bandoneonspieler spielte wie eine irre gewordene Weinbergschnecke, seine Augen traten aus den Höhlen, seine Unterlippe bewegte sich wiederkauend hin und her, aus leicht geöffnetem Mund pulsierte seine rosa Zunge hin und her.
Auf der Bühne wirbelte der Aserbaidschaner die Brünette im Jeansrock von links nach rechts, von oben nach unten, und von hinten nach vorne. Dann, Hruzik traute seinen alten Augen kaum, zerriss sich die nicht mehr ganz so junge Frau das linke Hosenbein und es wurde vollends erotisch. Längst war der Pferdeschwanz des Pockennarbigen gelöst und seine Mähne vermählte sich mit dem haarenden Wall der Brünetten. Als das zweite Hosenbein zerriss, geriet der Saal komplett außer Rand und Band. Männer stoben nach vorne, Frauen sprangen auf und nieder und im Nu glich die Tanzfläche einem brodelnden Suppentopf voll Huhn und aufknackenden Miesmuscheln. Hruzik schlug sich mit der Faust ins Gesicht, um seine Beschwipstheit zu vertreiben, doch es hatte einen eher gegenteiligen Effekt. Er musste handeln! Sofort!

Schon war der Aserbaidschaner aus seinem deutlich eingeschränkten Gesichtsfeld entfleucht. Panisch versuchte Hruzik, die Menge zu überblicken. Da! Er erhaschte einen artischockigen Schatten hinter dem Bullauge der hin und her schwingenden Küchentür. Sofort wuchtete er sich aus seinem Stuhl, rang einen japsenden Kerl in gedrechseltem Polohemd zu Boden und versuchte, sich einen Weg Richtung Küche zu bahnen. Fünf Stiefeltritte und sechs Fausthiebe später warf er sich durch die Küchentür und rollte unglücklich gegen einen großen Tiegel. Heiße Brokkolisuppe schwappte dabei über den Rand und zischte schmatzend auf sein Hemd. Schnaufend versuchte er sich aufzurichten, und ergriff dankbar eine Hand, die sich ihm anbot. Als er wieder stand, traute er seinen Augen kaum.
„Bruschwitz! Was zum Teufel tun Sie denn hier?”
„Mein Freund! Reden wir nicht um den heißen Brei herum, wir wissen beide genau, warum wir hier sind. Wo ist er?”
Hruzik war wieder einigermaßen sortiert und merkte, dass er hier keine Spiränzchen machen konnte. Sie mussten wohl oder übel zusammenarbeiten, sonst wäre alles eitel.
„Er muss hier durch die Küche gekommen sein, ich war ihm auf den Fersen!”
Sie blickten sich um und suchten nach Hinweisen auf den Verbleib des Aserbaidschaners. Da plumpste Bruschwitz ein Ding auf den Kopf. Er hob es auf und erkannte eine Artischocke. Langsam blickten beide nach oben.
„Der Lüftungsschacht!”

„Violet P. Räisänen ist die Meisterin des von ihr erfundenen Genres Chase & Pursuit und auf dem besten Wege, die mittlerweile etwas angejahrte skandinavische Krimiecke in den Buchhandlungen durch laufende Meter an Verfolgungsjagden abzulösen.” Aappo Sanikoläisetti, Tampere Sanomat