Gruppe 13


Räuberpistolen für den Hausgebrauch


Dementia

von Jåkkå Pollaidhsdóttir

Agneta Abendstern stand im blaufahlen Licht des U-Bahneingangs und malte sich blassrosa Lippenstift auf den faltigen Mund. Ihre durchscheinenden Lider flatterten ängstlich, furchtsam kauerte sich ihr resthemiplegischer Körper gegen die Infowand mit den Fahrplanauskünften. Es war niemand unterwegs zu dieser gottverlassenen Stunde, aber es würde sich schon jemand finden, irgendwann.
Ihr fehlte ohnehin jedes Zeitgefühl. Wie lange war es her, dass sie sich unbemerkt durch die Drehtür gestohlen hatte? Tatsache war, dass sie noch immer einen starken Desinfektionsmittelgeruch verströmte. Auch die widerwärtigen Aromen des letzten Abendessens hafteten ihr noch an, billige Instantzutaten, welche sie gezwungen war dickflüssig vom Suppenlöffel zu saugen. Beschämt blickte Agneta hinab auf ihre Pantoffeln, strich sich eine graue Strähne, die aus ihrem kunstvoll zerzausten Haarknoten geglitten war, hinter das Ohr.
Feindselig kroch die Kälte an ihr herauf und zwang ihren müden, dürren Rumpf sich streng aufzurichten. In ihr tobte der Hunger, ihre deprimierten Sinne bäumten sich auf nach kulinarischer Empfindung, unter ihrer Zunge lief das Wasser zusammen. Sie brauchte Geld.
Erschrocken stellte sie fest, dass ihre Gelegenheit bereits gekommen war: Er schlenderte, das Gesicht von unwirtlichen Hecken neben dem Gehweg beschattet, das rotschwarzkarierte Flanellhemd halb aus der Hüfthose hängend, arglos auf sie zu. Die Brille beschlagen, die Ohren zugepropft, hatte er sie auch auf die letzten Meter nicht wahrnehmen können und stieß nun, da er unerwartet vor ihr stand, einen kindlichen Schreckenslaut aus. Agneta spürte, wie sich ihre nunmehr nackten Füße langsam ausdrehten und sie langsam aber kraftvoll auf die halbe Spitze hoben. Federleicht schob ihr grüngeäderter Handrücken die Klappe seiner Umhängetasche nach oben, ihr Blick bohrte sich lähmend in den seinen, und sacht wuchs sie über ihn hinaus, ein gertenschlankes Bein zur Arabesque hebend, um seinen Hals legend. In diesem Augenblick begann sich ihr Opfer endlich panisch zu regen, sich zu verstricken in ihre biegsamen, unzerbrechlichen Gliedmaßen wie in einem klebrigen Kokon. In minutenlanger, sinnloser Anstrengung bäumte er sich in ihrer unerbittlichen Umarmung auf, bis Agneta schließlich tränenüberströmt den leblosen Körper zu Boden sinken ließ. Dann harrte sie aus, bis sich ein wenig wohltuende Verwirrung über ihren erschöpften Geist legte.
Mit schüchterner Beschämung löste sie dann ihr seidenes Halstuch und breitete es ergriffen über sein verstummtes Gesicht.
Sein weniges Bargeld reichte gerade für einen kleinen Snack in der Bahnhofshalle. Doch Agneta war genügsam, und fand ganz allein, von würdevoller Erhabenheit getragen, ihren Weg zurück in die Obhut ihrer Pflegebediensteten, und legte sich mit der seligen Gewissheit, das Frühstück zu verschlafen, zur Ruhe.