Dementia
von Jåkkå Pollaidhsdóttir
Agneta Abendstern stand im blaufahlen Licht des U-Bahneingangs und malte
sich blassrosa Lippenstift auf den faltigen Mund. Ihre durchscheinenden
Lider flatterten ängstlich, furchtsam kauerte sich ihr resthemiplegischer
Körper gegen die Infowand mit den Fahrplanauskünften. Es war niemand
unterwegs zu dieser gottverlassenen Stunde, aber es würde sich schon
jemand finden, irgendwann.
Ihr fehlte ohnehin jedes Zeitgefühl. Wie lange war es her, dass sie sich
unbemerkt durch die Drehtür gestohlen hatte? Tatsache war, dass sie noch
immer einen starken Desinfektionsmittelgeruch verströmte. Auch die
widerwärtigen Aromen des letzten Abendessens hafteten ihr noch an, billige
Instantzutaten, welche sie gezwungen war dickflüssig vom Suppenlöffel zu
saugen. Beschämt blickte Agneta hinab auf ihre Pantoffeln, strich sich
eine graue Strähne, die aus ihrem kunstvoll zerzausten Haarknoten
geglitten war, hinter das Ohr.
Feindselig kroch die Kälte an ihr herauf und zwang ihren müden, dürren
Rumpf sich streng aufzurichten. In ihr tobte der Hunger, ihre deprimierten
Sinne bäumten sich auf nach kulinarischer Empfindung, unter ihrer Zunge
lief das Wasser zusammen. Sie brauchte Geld.
Erschrocken stellte sie fest, dass ihre Gelegenheit bereits gekommen war:
Er schlenderte, das Gesicht von unwirtlichen Hecken neben dem Gehweg
beschattet, das rotschwarzkarierte Flanellhemd halb aus der Hüfthose
hängend, arglos auf sie zu. Die Brille beschlagen, die Ohren zugepropft,
hatte er sie auch auf die letzten Meter nicht wahrnehmen können und stieß
nun, da er unerwartet vor ihr stand, einen kindlichen Schreckenslaut aus.
Agneta spürte, wie sich ihre nunmehr nackten Füße langsam ausdrehten und
sie langsam aber kraftvoll auf die halbe Spitze hoben. Federleicht schob
ihr grüngeäderter Handrücken die Klappe seiner Umhängetasche nach oben,
ihr Blick bohrte sich lähmend in den seinen, und sacht wuchs sie über ihn
hinaus, ein gertenschlankes Bein zur Arabesque hebend, um seinen Hals
legend. In diesem Augenblick begann sich ihr Opfer endlich panisch zu
regen, sich zu verstricken in ihre biegsamen, unzerbrechlichen Gliedmaßen
wie in einem klebrigen Kokon. In minutenlanger, sinnloser Anstrengung
bäumte er sich in ihrer unerbittlichen Umarmung auf, bis Agneta
schließlich tränenüberströmt den leblosen Körper zu Boden sinken ließ.
Dann harrte sie aus, bis sich ein wenig wohltuende Verwirrung über ihren
erschöpften Geist legte.
Mit schüchterner Beschämung löste sie dann ihr seidenes Halstuch und
breitete es ergriffen über sein verstummtes Gesicht.
Sein weniges Bargeld reichte gerade für einen kleinen Snack in der
Bahnhofshalle. Doch Agneta war genügsam, und fand ganz allein, von
würdevoller Erhabenheit getragen, ihren Weg zurück in die Obhut ihrer
Pflegebediensteten, und legte sich mit der seligen Gewissheit, das
Frühstück zu verschlafen, zur Ruhe.